Jean de Palacio: „Das Porträt“

Das Porträt by Jean de Palacio
Das Porträt von Jean de Palacio.

Hochverdichtete, literarische Hymne auf die Sprache und Angst vor ihrem Niedergang.

Jean de Palacio, geboren 1931, widmet sich seit der Emeritierung von seiner Professur für Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Paris-Sorbonne dem literarischen Schreiben. Im Alter, wo viele aufhören, beginnt de Palacio literarisch zu publizieren. Das Porträt fand seinem Weg in die Öffentlichkeit als sein Autor geradewegs auf die achtzig zuging (2009). Es handelt von einem Linguisten, der absterbende Sprachen zu retten versucht:

Die Verben waren besonders bedroht, einige ihrer Modi wurden attackiert: im Partizip Präsens und besonders im Infinitiv wurden sie zur Beute von Wundbrand und Mehltau, heimgesucht von Konidien und Oosporen, dabei wurden ihre alphabetische Ordnung und ihr Sinn durcheinandergebracht und die Zukunft des Sprechens verschattet.

Gleich vorab gesagt, es handelt sich bei Das Porträt um ein hochkomprimiertes, intellektualisiertes, Barock-anmutendes Allegoriestück, das seine Inspiration aus der Wehmut und Sehnsucht nach einer Sprache zieht, die nicht mit der Tür ins Haus fällt. In solchen Werken gibt es einen zarten Handlungsfaden, um den herum sich Reflexionen, Assoziationen spinnen, also einen Plot, der wie ein weitmaschiges Netz durchs Tiefengewässer der Phantasie gezogen wird, um seltene, überraschende Wendungen, Gedanken und Ideen habhaft zu werden, die ansonsten dem direkten Zugriff sich entziehen würden.

Obwohl sie Maurices Sprache beherrschte, hatte sie deren Gebrauch in den ersten dreizehn Tagen ihrer Verbindung verweigert. Und dann, am vierzehnten Tag, der zugleich der Tag vor ihrer Abreise war, hatte sie abrupt, ohne Ankündigung die Sprache gewechselt, indem sie sich nun in seiner Muttersprache ausdrückte und sie verwendete, wie man mit unsicherem Schritt, wankend und mühsam über Pfützen läuft. Nur ihr Name war ihm noch geblieben: Sie hieß Elisabeth Wehland.

Das Porträt handelt von dem Linguisten Maurice, der absterbende Sprache zu retten versucht, und einer gewissen Elisabeth Wehland nachspürt, einerseits ob einer seltenen osteuropäischen Sprache, die sie noch in sich trägt, andererseits ob der Faszination, die für ihn von ihrer Person ausgeht. De Palacios Kurzroman, knapp 150 Seiten, schließt an Joris-Karl Huysmans gotischen Werken wie Tief unten oder Gegen den Strich an, aber kommuniziert auch intensiv mit Oscar Wildes Das Bildnis des Dorian Gray . In seiner Stimmung erinnert es an jedoch, eher modernistisch, an dichterische Kondensationen wie Simon Strauss Zu zweit .

Die Allegorie hier auseinanderzunehmen, führt zu zweit. Sie setzt literarisch-elliptisch, mittels einer narrativen Synekdoche um, was Niklas Luhmann in Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität als Anschlussfähigkeit beschreibt, Systembildung, Nähe, Intimität mittels eines geteilten Codes, mittels Kommunikation, die als Zeitraffung, metonymisch, Entfaltungs- und Wachstumsmöglichkeiten bietet. Die Sprache selbst dient hier als Symbol des Verständnisses und der Liebe, die möglich und unmöglich, als mögliche Unmöglichkeit am Horizont des Verlangens der Protagonisten steht. Die Trauer und Angst, dass diese Möglichkeit verloren geht, beherrscht den Stil, den Ton, die Stimme und zieht sich durch das bis ins letzte Detail hinein gestraffte Werk von Jean de Palacio hindurch, das leider die Straffung und Verdichtung teilweise bis zum Kryptischen vorantreibt und daher stellenweise an Leichtigkeit und Ausdruckskraft verliert.

Inhalt: 4/5 Sterne (Angst vor Sprach- und Liebesverlust)
Form: 5/5 Sterne (klassischer, ausgefeilter Stil)
Erzählstimme: 5/5 Sterne (gelungene, auktoriale Selbstbeschränkung)
Komposition: 3/5 Sterne (zu kurz, zu viel)
Leseerlebnis: 5/5 Sterne (Epochen-übergreifende Sprachlust)

Ich bedanke mich herzlich bei Birgit Böllinger fürs Aufmerksam-Machen, und beim Flur Verlag bei Alexandra Beilharz fürs Zusenden eines Rezensionsexemplars.

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