Gabriel García Márquez: „Wir sehen uns im August“

Wir sehen uns im August
Wir sehen uns im August.

Die Reichen und Schönen unter sich. Eine Telenovela in Kurzform.

Gabriel García Márquez skizziert in dem wenig umfänglichen Roman „Wir sehen uns im August“ die Suche Ana Magdalena Bachs nach Romantik, Intensität und Sinnlichkeitserfüllung. Die Protagonistin fährt einmal pro Jahr auf eine Insel in die Karibik, wo ihre Mutter begraben liegt. Dorthin bringt sie ein Strauß Gladiolen, gedenkt ihrer Mutter, verbringt eine Nacht in einem Hotel und fährt zurück in ihr vermeintlich glückliches Leben mit Ehemann, Tochter und Sohn. Doch dann geschieht etwas Unvorhergesehenes:

Es hatte zwei Uhr geschlagen, als ein Donner das Haus bis ins Fundament erschütterte und der Wind den Riegel des Fensters aufdrückte. Schnell schloss sie es wieder, und im plötzlichen Mittagslicht eines weiteren Blitzes sah sie die aufgewühlte Lagune und, durch den Regen hindurch, den riesigen Mond am Horizont und die blauen Reiher atemlos im Sturm flattern. Er schlief.

Und der, der dort schläft, ist ein Unbekannter. Fast aus dem Unbewussten heraus begeht sie einen Seitensprung. Sie erlebte eine erfüllte Liebesnacht. Der Unbekannte verschwindet. Sie träumt weiter, hin und her gerissen, und ein Jahr später fährt sie wieder auf die Insel, setzt ihr Ritual fort und vermag nicht anders, als dem Wunsch nach Wiederholung des Abenteuers nachzugeben, und wieder geschieht etwas Überraschendes:

»Sie kleiden das Kleid.« Der Satz beeindruckte sie. Unbewusst fuhr sie sich mit den Handflächen über den Körper, den makellosen Ausschnitt, die lebendigen Brüste, die nackten Arme, um sich zu vergewissern, dass ihr Körper wirklich da war, wo sie ihn spürte. Dann schaute sie erneut über die Schulter, nun nicht mehr, um den Besitzer der Stimme kennenzulernen, sondern um ihn mit den schönsten Augen, die er je sehen sollte, in Besitz zu nehmen.

Die Diktion von Gabriel García Márquez lässt überraschende Vokabeln zu, erzeugt eine atmosphärische Stimmung von Wiedersehen und Abschied und lässt vor dem inneren Auge den Nimbus eines Geheimnis um die Insel, die Veränderungen, um das Leben in maritalen Architekturen, die zu Entfremdungen führen, entstehen.

Auffällig, und etwas störend, durchziehen den Text viele Zitate, die nur in einem gewollt-allegorischen Zusammenhang mit der Erzählung in Verbindung gebracht werden können. Da wären bspw. die Bücher, die die Protagonistin liest: Bram Stokers „Dracula“, Daniel Defoes „Die Pest zu London“, Graham Greenes „Das Ministerium der Angst“, „Die Mars-Chroniken“ von Ray Bradbury, nur um nur einige zu nennen. Desweiteren werden viele Musikstücke des typischen Klassik-Kanons genannt, vom plakativen Namen der Protagonistin einmal ganz abgesehen, um eine heile Welt der Oberfläche zu illustrieren, die untergründig durch sinnliche Lust untergraben wird.

Sie staunte über die Könnerschaft eines Salonmagiers, mit der er sie Stück für Stück entblößte, als häute er eine Zwiebel, während seine Fingerspitzen sie kaum berührten. Bei dem ersten Stoß glaubte sie vor Schmerz zu vergehen und erfuhr die schreckliche Erschütterung einer Färse, die zerlegt wird.

Der Roman verdichtet das schlechte Gewissen eine Spur zu stark. Die Szenen erscheinen fragmentarisch, die Situationen nur angedeutet, die Figuren verlieren, bis auf Ana Magdalena Bach selbst jede Kontur. Insbesondere das Ende fällt abrupt in den Leseprozess und markiert also, was Gabriel García Márquez dem Vorwort zu entnehmen, selbst empfand, „Wir sehen uns im August“ ist ein Fragment. Wer die Thematik aus einem ähnlichen Horizont bearbeitet lesen möchte, erhält mit Fernando Namoras „Os Clandestinos“ („Im Verborgenen“) nachhaltigere Kost.

„Wir sehen uns im August“ bleibt eine Skizze eines Romans, der, vielleicht leider, nie das Licht der Welt erblicken durfte.

Inhalt: 1/5 Sterne (allegorische Telenovela)
Form: 4/5 Sterne (atmosphärische Beschreibungen)
Komposition: 2/5 Sterne (nur ein Erzählrumpf)
Leseerlebnis: 2/5 Sterne (zu kurz, um zu wirken)

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Update: Ich ändere nach Diskussion und eingehendere Analyse meine Bewertung der
Komposition: auf 4/5 Sterne (Crescendo einer Aufgabe). García Márquez hat textgestalterisch eindeutig einen Plan der Fortschrittskritik angelegt, der mir erst im Nachhinein klar geworden ist. Daher nun: 3 Sterne. Größte Schwäche bleiben für mich die unverknüpften Allegorien und Anspielungen, die ornamentaler Zierat sind und dem Text selbst nichts als losen Verbundschmuch hinzufügen, bspw. der Bezug auf klassische Musik und Literatur.

2 Gedanken zu „Gabriel García Márquez: „Wir sehen uns im August““

  1. Die von dir gewählten Zitate lassen mich gruseln.
    Das klingt ja mal kitschig. Dabei habe ich die hundert Jahre Einsamkeit mehrmals gelesen.
    Deine Rezension sagt ja aber aus, dass du dem Buch offensichtlich etwas abgewinnen konntest.
    Ich werde es trotzdem lieber nicht lesen:)

    1. Nein, ich versuche nur eingehend den Text zu verstehen – die Art wie Marquez mit seinen Figuren umgeht, erschließt sich mir nicht. Ich habe im übrigen letzte Woche “Hundert Jahre Einsamkeit” gelesen, da renne ich gegen eine Wand – ich habe selten einen so hermetischen Nihilismus gelesen. Ich kann dieser Art der Literatur kaum etwas abgewinnen – fühlt sich an wie ein Puzzlespiel, bei dem es keine Vorderseite gibt. Bin da noch am Überlegen, was mir das sagt.

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