Han Kang: „Griechischstunden“

Griechischstunden

Durch einen Spiegel in einem dunklen Wort – die Stimme zurückfinden.

Viele Romane streben heutzutage eine Literatur der kleinen Form an. Sie besteht in äußerst verdichteten Minimalszenerien, die sofort, ohne längeren Aufschub, auf die Erzählidee eingehen, den inneren Konflikt thematisieren und auf nur wenigen Seiten dann, oftmals sogar berechenbar, diesen auflösen. Im Zentrum dieser Art Literatur steht oftmals ein bereits auf viele Weise tradierter Stoff wie bei Alan Lightman in „Und immer wieder die Zeit“ Einsteins Relativitätstheorie, oder bei Cees Nootebooms „Rituale„, die japanische Teezeremonie. Bei Han Kangs „Griechischstunden“ steht Platons Idee auf dem Programm, das Übersinnliche, Überzeitliche, das Nicht-Sichtbare:

Aber stimmt das überhaupt? Hat mich Platons Universum aus den Gründen fasziniert, die du angeführt hast [die drohende Blindheit] – und so, wie ich schon zuvor vom Buddhismus angezogen wurde, weil er sich mit einem einzigen Schnitt vom spürbaren Dasein loslöst? Weil es mir bestimmt war, den sichtbaren Teil der Welt zu verlieren?

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Deniz Ohde: „Ich stelle mich schlafend“

Ich stelle mich schlafend

Atmosphärisch stimmig. Ein Erzählsound, durchgängig aufrechterhalten, der sich den Zwang auferlegt, oberflächlich zu bleiben. Schade.

Deniz Ohdes zweites Buch „Ich stelle mich schlafend“ lässt sich als eine Erweckungsliteratur begreifen, der den Mut zur eigenen Courage fehlt. Mittels Yasemine, der Protagonistin, wird von Schuld, körperlicher Entfremdung, von Übergriffen, Obsessionen und Distanznahmen erzählt:

Aber davon wusste Yasemin noch nichts, daran dachte sie auch nicht, als sie nun, achtzig Jahre später, vor speziellen Spiegeln in ein Verwandtschaftsverhältnis mit dieser Pionierin [der Krankengymnastin] trat und sich auf sich selbst besinnen sollte. Ein Gefühl für ihren Körper entwickeln, den sie bisher mehr als Vehikel gesehen hatte, das man wohl oder übel ab und zu mit Gemüse und Wasser füttern musste, damit es einen durch die Welt trug. An ihren Atem hatte sie schon gar nie gedacht.

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Omri Boehm, Daniel Kehlmann: „Der bestirnte Himmel über mir“

Der bestirnte Himmel über mir

Brainstorming über Kant. Im Schweinsgalopp über die Tiefen und Untiefen eines Denkens hinweg.

Im Kant-Jahr, am 22.4.2024 wird der 300. Geburtstag gefeiert, gibt es viele Einführungs- und Festschriften, sogenannte Liber Amircorum, worin eben schon die Freundschaft selbst anklingt, die sich Omri Boehm und Daniel Kehlmann festlich mit ihrem Buch über Kant „Der bestirnte Himmel über mir“ gegenseitig bestätigen. Da es sich selbst als „Ein Gespräch über Kant“ ausweist, lassen sich folgende Dialog Fetzen erklären:

Boehm: Aufzuwachsen ist nicht etwas, das auf natürliche Weise oder in Übereinstimmung mit der Natur geschieht …
Kehlmann: Gegen die Natur sogar!
Boehm: Anders als bei Tieren ist das Heranreifen eines Menschen eine Leistung, die von uns abhängt – sie fällt in unsere Verantwortung. Das ist der Schlüssel zur Idee der Aufklärung. Im Unterschied zu Tieren, die von Natur aus nicht anders können, als reif zu werden – es sei denn, sie werden durch äußere Umstände daran gehindert –, ist Reife für uns kein natürlicher Zustand.

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Barbi Marković: „Minihorror“

Minihorror

Mikis und Minis Minihorror als Prüfstand für literarische Toleranz. Experimentell, bis weit übers Ziel hinaus.

Ein Teil der ästhetischen Kommunikation besteht seit je aus Provokation. Alte Lesegewohnheiten werden herausgefordert, neue Worte erfunden, Tabus gebrochen, Leseerwartungen enttäuscht. Hier beginnt das Spiel mit Sprache und Form und gerät schnell zum Selbstzweck wie in der Experimentellen Literatur im Allgemeinen oder in der Absoluten Prosa im Besonderen. Barbi Marković, Siegerin des Preises der Leipziger Buchmesse 2024, legt mit „Minihorror“ einen eigenartigen, eigenwilligen, fast bis zur Unlesbarkeit gepeitschten Text vor:

Mini schminkt sich, weil sie bald zur Party gehen will. Sie schaut nach, wie spät es ist, und dabei bemerkt sie einen verpassten Anruf von Kylie. Als sie zurückruft, geht Kylie nicht ran. Ein paar Sekunden später schaut sie wieder aufs Handy und sieht, dass Kylie angerufen hat. Mini ruft wieder zurück, und Kylie hebt nicht ab, aber gleich danach ruft Kylie an, und Mini sieht es und hebt ab.
»Endlich«, sagt Mini und lacht. »Ich habe meinen Ton nie an.«
»Ich weiß«, sagt Kylie, »niemand hat den Ton an.«

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Julia Jost: „Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht“

Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht

Subversives Schreiben gegen das ländliche Kärntner Idyll. Eine poetische Aufruhr aus der Sicht seines kindlichen Wildfangs.

Wer, was ich erst durch den Kauf des Hardcover-Exemplars von Julia Josts Roman erfuhr, Geleitworte von Elfriede Jelinek auf dem Umschlagtext erhält und dieser sogar expliziert am Ende ihres Buches dankt, muss zumindest irgendetwas Textliches gewagt haben. Julia Jost wagt indes viel. Sie beschreibt aus der Sicht einer Heranwachsenden, das Alter der 1982 geborenen Ich-Erzählerin schwankt zwischen sieben und dreizehn Jahren, das Leben und Aufwachsen in Kärnten unter, so ließe sich mit Ingeborg Bachmann zusammenfassen, Mördern und Irren:

Obwohl der vulgo Focknhocker keine drei Kilometer vom Gratschbacher Hof entfernt wohnt, er dieselben Bäume anschaut wie ich und Schwalben, derselbe Geruch in ihn eindringt, er vom gleichen Speck isst und die gleiche Milch trinkt, obwohl er, wie ich, erst nach und nach den zweibeinigen Gang und die Artikulation mit der Zunge gelernt hat, obwohl sein Dialekt dem meinen gleicht, kam er mir in jenem Augenblick unüberbrückbar fremd vor.

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