Julia Jost: „Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht“

Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht

Subversives Schreiben gegen das ländliche Kärntner Idyll. Eine poetische Aufruhr aus der Sicht seines kindlichen Wildfangs.

Wer, was ich erst durch den Kauf des Hardcover-Exemplars von Julia Josts Roman erfuhr, Geleitworte von Elfriede Jelinek auf dem Umschlagtext erhält und dieser sogar expliziert am Ende ihres Buches dankt, muss zumindest irgendetwas Textliches gewagt haben. Julia Jost wagt indes viel. Sie beschreibt aus der Sicht einer Heranwachsenden, das Alter der 1982 geborenen Ich-Erzählerin schwankt zwischen sieben und dreizehn Jahren, das Leben und Aufwachsen in Kärnten unter, so ließe sich mit Ingeborg Bachmann zusammenfassen, Mördern und Irren:

Obwohl der vulgo Focknhocker keine drei Kilometer vom Gratschbacher Hof entfernt wohnt, er dieselben Bäume anschaut wie ich und Schwalben, derselbe Geruch in ihn eindringt, er vom gleichen Speck isst und die gleiche Milch trinkt, obwohl er, wie ich, erst nach und nach den zweibeinigen Gang und die Artikulation mit der Zunge gelernt hat, obwohl sein Dialekt dem meinen gleicht, kam er mir in jenem Augenblick unüberbrückbar fremd vor.

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Terézia Mora: „Das Ungeheuer“

Das Ungeheuer

… eine ästhetisch-literarische intensive Widerstandserklärung.

Ingeborg Bachmann Preisträgerin von 1999 und Georg-Büchner Preisträgerin von 2018 erzählt in ihrem Roman „Das Ungeheuer“, mit dem sie den Deutschen Buchpreis 2013 gewonnen hat, von zwei Reisen: Floras Reise durch die Melancholie und Hoffnungslosigkeit, die im Selbstmord endet; und Darius‘ Reise, durch Südosteuropa, die in einer Straßenschlacht in Athen endet. Darius kommt mit seinem Leben davon. Flora jedoch hat knapp zwei Jahre vor dem Ende von Darius Reise, ihrer gemeinsamen Ehe und Leben, ein Ende gesetzt. Sie erhängte sich in einem abgelegenen Wald. Darius erzählt:

„Meine Frau war 37 Jahre alt, als sie beschloss, nicht mehr wertbar zu sein. Ich bin 46 und — gegenwärtig, so sagt man es doch wohl korrekterweise: gegenwärtig — ebenfalls nicht wertbar. Außer, dass ich noch lebe.“

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Olga Tokarczuk: „Empusion“

Empusion

Ein Roman jenseits von Grenzen und Differenzen.

Ausführlicher, vielleicht begründeter: https://kommunikativeslesen.com/2023/…

Empusion“, der erste Roman von Olga Tokarczuk seit dem Erhalt des Literaturnobelpreises 2019, spielt in Görbersdorf, im preußischen Schlesien gelegen, im Jahr 1913. Viele Rezensionen weisen auf die klare Bezugnahme Tokarczuks auf Thomas Manns Roman „Der Zauberberg“ hin. Die Parallelen fallen sofort ins Auge:

Der Doktor erhob sich schwungvoll, reichte Wojnicz den Zettel mit seinen Anweisungen. Das also war es. Jetzt war er aufgenommen. Nun saß er wieder im Wartezimmer, und die unansehnliche Krankenschwester bereitete sein Behandlungsbüchlein vor sowie weitere Dokumente, die er benötigte. Er zog die gefaltete Broschüre aus der Tasche und las zu Ende, was er begonnen hatte:
»Allgemein muss gesagt werden, dass in Hinsicht der Heilung bislang Aufenthalte in Kurorten wie Meran in Tirol, im schlesischen Görbersdorf oder im nach Görbersdorfer Vorbild eingerichteten schweizerischen Davos die beste Wirkung erbringen.«

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Elfriede Jelinek: „Angabe der Person“

Elfriede Jelinek: „Angabe der Person“

Mit dem Tod im Rücken destruktiv fürs Neue und Lebendige geschrieben.

Ausführlicher, vielleicht begründeter: https://kommunikativeslesen.com/2022/…

Elfriede Jelinek schreibt keine klassischen Texte. Ihre Romane gelten zwar als Prosa, gleiten jedoch stets über ins transkribiert Mündliche, und ihre Theaterstücke besitzen zwar Regieanweisungen, aber unterlaufen das Mündliche durch wild ineinanderverschlungene Wort- und Bedeutungskaskaden. „Angabe der Person“ setzt dieses janusköpfige Paradigma fort. Der Text endet mit dem Versprechen „Uraufführung im Dezember 2022“, aber scheut keine Kosten und Mühen, eine Vortragssituation des unbearbeiteten, unredigierten Textes ins Höchstunwahrscheinliche zu verschieben:

„Und dennoch, so viele folgen mir nach!, nein, ich schau nach: Es sind gar nicht so viele. Das ist so tief, das Ganze ist zu tief für dich, Elfi!, du kannst eh kaum schwimmen. Ach was!, wer liest das schon, wer liest das denn, lese ich gerade über mich. Aber bitte, man kann es sich doch auch mal anschauen, selbst wenn man nicht lesen mag!“

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