Luna Al-Mousli: „Um mich herum Geschichten“

Um mich herum Geschichten

Vom Bürgerkrieg und seine Folgen aus der Sicht unschuldiger Dinge inmitten von Zerstörung und Gewalt.

Kinder, Tiere, aber auch Gegenstände tragen keine Schuld an Verhältnissen, Krieg und Zerstörungen in Ländern. Aus ihrer Perspektive die Ereignisse eines Bürgerkrieges zu erzählen, intensiviert den Blick und lässt den Schrecken ungemindert, ohne Rationalisierung, ohne Parteinahme innerhalb des Konflikts, erscheinen. Luna Al-Mousli wählt in ihrem Kurzroman „Um mich herum Geschichten“ die Erzählperspektive aus Sicht fünf verschiedener Gegenstände: Eines Laptops, eines Musikinstrumentes, einer Doktorurkunde, eines Anzugs und eines Türschlüssels. Die Besitzer tauchen nur am Rande auf. Leidtragende, Hoffende, Duldende bleiben die Dinge:

„Jedes Mal hoffte ich [der Anzug], dass die Krawatte meinen Stoff streifen und er sich für mich entscheiden würde. Doch irgendwie schien der richtige Anlass für mich nicht zu kommen. Bald heirateten all seine Bekannten, Nichten und Neffen und ich begann zu glauben, dass er mich wohl für die Hochzeit eines seiner Kinder aufhob. Also wartete ich geduldig und hoffte, dass er seine Figur behielt und weder zu noch abnahm.“

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Claire Keegan: „Das dritte Licht“

Das dritte Licht

Zurückhaltend langanhaltende Wirkung entfaltend. Ein Kindersommer.

Das dritte Licht“ hat Claire Keegan als Erzählung konzipiert. Sie ist kurz, sehr knapp, sehr zurückhaltend formuliert, und zwar aus der Sicht eines kleinen Mädchen, das für einen Sommer zu Zieheltern gebracht wird, um die schwangere Mutter und den spielsüchtigen Vater des Mädchens zu entlasten. Eine wirkliche Nähe zwischen dem kleinen Mädchen und ihren leiblichen Eltern gibt es nicht.

„»Viel Glück«, sagt [der Vater]. »Ich hoffe mal, das Mädchen macht euch keine Scherereien.« Dann wendet er sich mir zu. »Und du pass auf, dass du mir nich’ ins Feuer fällst.« Ich beobachte, wie er zurücksetzt, den Wagen in die Auffahrt lenkt und davonfährt. Ich höre die Räder über den Weiderost rattern, dann die Gangschaltung und das Motorgeräusch von der Straße her, auf der wir gekommen waren. Warum hat er sich aus dem Staub gemacht, ohne sich zu verabschieden, ohne auch nur zu erwähnen, dass er mich wieder abholen wird? Die sonderbar reife Brise, die über den Hof streicht, fühlt sich jetzt kühler an, und über der Scheune sind große weiße Wolken aufmarschiert.“

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Anne Rabe: „Die Möglichkeit von Glück“

Die Möglichkeit von Glück

Kein Roman, aber als Dokument völliger Rat- und Orientierungslosigkeit, sehr überzeugend.  

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Anne Rabes literarisches Debüt „Die Möglichkeit von Glück“ bringt die Tätigkeitsfelder der Autorin unter einen Hut. Sie wirkt als Dramatikerin, Drehbuchautorin und Essayistin und erfährt sich als Nachgeborene im Sinne Bertolt Brechts der verschiedenen Lager- und Grabenkämpfe des 20. Jahrhunderts. Ihr Text arbeitet sich vor allem an dem geheimen Idol und Gegner und Übervater des deutschen Theaters, besagten Brecht, ab:

„Der blöde Brecht macht mich noch wahnsinnig. Er marschiert mir gerade rein in die Gedanken und mahnt und mahnt. Bilde dir kein Urteil! Bilde dir ja kein Urteil, du Nachgeborene! Ja, wieso eigentlich nicht? Das ist doch ein billiger Trick. Hinter der wortschönen Mahnerei drei Keller tief Schweigen. Dort habt ihr eure Schuld verbuddelt und verbietet uns, sie auszuheben. Sprecht uns ab, dass wir zu unserem eigenen Urteil kommen. Was kümmert’s euch? Was geht’s euch an, was wir über euch denken?

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Caroline Wahl: „22 Bahnen“

22 Bahnen

Von Träumen, Wünschen und anderen, berührenden, Teenager-Ängsten und -Schmachten.

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Ums Schwimmen oder den Schwimmsport geht es in „22 Bahnen“ von Caroline Wahl nicht wirklich, genauso wenig wie in Annika Büsings „Nordstadt“. Sie spielen lediglich teilweise im Schwimmbad. Es geht vielmehr wie in Büsings Debütroman ums Arm-Sein, um die Schwierigkeiten einer Eltern-Kind-Beziehung und die Liebe, die Beziehung, die ein Ausweg aus der aufoktroyierten Isoliertheit und den desaströsen Lebensumständen bietet:

Abends liege ich auf meiner Matratze, der Herbstwind fällt auf mich, ich denke an das Hochhaus, an den Ausblick vom Hochhausdach, an den hellblau-rosa und dann knallpinken Himmel, an die sich vereinenden, in den Süden ziehenden Vogelschwärme, an Mufasa und Simba, an Viktor, an seinen Kuss, und ich überlege, wie der Wind am Meer riecht. Salzig. Und nach Algen. Sand fliegt mir in die Augen.“

Caroline Wahl aus: “22 Bahnen”
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T.C. Boyle: „Blue Skies“

Blue Skies

Kein Thriller, keine Ironie, kein Humor, aber dafür langatmig.

T.C. Boyles neuer Roman „Blue Skies” besitzt zwar eine klare Botschaft, dass die Welt, der Planet vor den Menschen gerettet werden muss, aber er schlägt hierbei sehr gemischte Töne und unentschiedene Gangarten an. Sein Erzählstil schwankt zwischen zynisch, ironisch, satirisch und reißerisch und findet nirgendwo ein Gleichgewicht, aus dem heraus sich ungehindert ein Lesefluss in die Welt der Cullens ergibt:

Es war seltsam, sie im Haus zu haben, ihre Körper, ihre Ausstrahlung, ihre flüsternden Geräusche, ihre Psychen, die wie ferne Rechenmaschinchen vor sich hin arbeiteten und ihre eigenen Wirklichkeiten konstruierten, die schliefen und wachten in einem Raum, der Ottilie gehörte, einem eingeschränkten Raum, in dem es nicht mal mehr Dunphy gab.

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Maria Borrély: „Mistral“

Mistral

Geheimnisvolle und tragische Naturprosa voller Intensität

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Maria Borrélys Roman „Mistral“ erschien zum ersten Mal 1930 bei Gallimard. André Gide, der spätere Literaturnobelpreisträger von 1947, empfahl es in höchsten Tönen. Es ward dennoch vergessen. Erst 2006 wurde es wieder aufgelegt, und 2022 von Amelie Thoma zum ersten Mal ins Deutsche übersetzt, aus zunächst keinem anderen Grund als den, dass die Übersetzerin häufig dort ihren Urlaub verbringt, wo der Roman spielt, Puimoisson, auf halbem Wege zwischen Marseille und Nizza Richtung Grenoble gelegen.

Die Sonne umschließt einen ganzen Mandelbaum. Als die große Kugel hinabgeglitten ist, steht der Himmel noch immer in Flammen. Hügel und Wolken verschmelzen, sehen aus wie das Meer. Denn sie kennt das Meer, wo weiße Schaumperlen über die Wellen rennen und springen. Sie hat es in Marseille gesehen, bei der Hochzeit von Cousine Thérèse. Sie erinnert sich an weiße Boote mit blitzenden Kupferbeschlägen, Vorhängen aus heller Seide, glänzenden Lederdivanen …

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