Anne Rabe: „Die Möglichkeit von Glück“

Die Möglichkeit von Glück

Kein Roman, aber als Dokument völliger Rat- und Orientierungslosigkeit, sehr überzeugend.  

Ausführlicher und vielleicht begründeter auch auf kommunikativeslesen.com

Anne Rabes literarisches Debüt „Die Möglichkeit von Glück“ bringt die Tätigkeitsfelder der Autorin unter einen Hut. Sie wirkt als Dramatikerin, Drehbuchautorin und Essayistin und erfährt sich als Nachgeborene im Sinne Bertolt Brechts der verschiedenen Lager- und Grabenkämpfe des 20. Jahrhunderts. Ihr Text arbeitet sich vor allem an dem geheimen Idol und Gegner und Übervater des deutschen Theaters, besagten Brecht, ab:

„Der blöde Brecht macht mich noch wahnsinnig. Er marschiert mir gerade rein in die Gedanken und mahnt und mahnt. Bilde dir kein Urteil! Bilde dir ja kein Urteil, du Nachgeborene! Ja, wieso eigentlich nicht? Das ist doch ein billiger Trick. Hinter der wortschönen Mahnerei drei Keller tief Schweigen. Dort habt ihr eure Schuld verbuddelt und verbietet uns, sie auszuheben. Sprecht uns ab, dass wir zu unserem eigenen Urteil kommen. Was kümmert’s euch? Was geht’s euch an, was wir über euch denken?

Rabes Schreibstil bleibt dem Alltagsdeutsch verpflichtet. Sie lamentiert, repetiert, assoziiert an einer erfundenen, recherchierten, oder real-erlebten Familiengeschichte entlang. Es spielt aber keine Rolle, inwiefern autobiographische Elemente in den Text „Die Möglichkeit von Glück“ eingeflossen sind oder nicht, wo Narration und Information sich überschneiden oder gar überlagern. Das Etikett „Roman“ verbürgt für die Fiktion, für die Erfindung, die Imagination. Im Text muss nichts stimmen, also stimmt auch nichts. Das Schreiben, das Erinnern, dient lediglich der Erzählinstanz als Flucht:

„Und so viel ich auch sammle, es ist, als würde ich dem Kaleidoskop nur ein weiteres Steinchen hinzufügen. Das Bild zersplittert in immer kleinere Teile. Es ist ein Faszinosum, von dem ich nicht lassen kann, und ich möchte in jede Ecke schauen, alles erfassen, aber schon habe ich mich wieder ein Stück bewegt und da sieht es plötzlich ganz anders aus. Eine schöne Art vor sich selbst zu fliehen. Vor den Albträumen, den Erinnerungsströmen und rastlosen Gedanken, die immer bloß im Meer meiner Schuldgefühle münden.“

Wer recht hat, wer nicht; wer die Deutungshoheit besitzt oder nicht besitzen darf oder dürfte; wer zu schweigen hat, wer lieber nicht mehr schweigen sollte – all diese Fragen beschäftigt die Erzählinstanz kursorisch in Bezug auf die dargestellte Lebensgeschichte, anhand derer die typischen historischen Ereignisse des Nachkriegsdeutschland wie Perlen an einer Kette aufgeschnürt werden: Vergangenheitsbewältigung, Aufstand des 17. Juni, Mauerbau, Mauerfall, Stasi-Unterlagen, Rechtsradikalismus, Fremdenfeindlichkeit, Sexualverbrechen, Kindesmissbrauch und immer wieder die Frage: Wer hat recht, wer unrecht, die sich insbesondere an der Rekonstruktion des Lebenslaufes des Opas Pauls entzündet:

Diese Leben, von denen [Opa Paul] nicht sprechen konnte, weil er sie immer wieder verstecken und überschreiben musste. Er hat sich vor sich selbst versteckt, um weiterzumachen, voranzukommen. Um zu bekommen, was ihm niemand schenken würde, wonach er nur selbst greifen konnte. Er hat geglaubt, auf der Seite der Sieger zu stehen. Auf der richtigen Seite der Geschichte. Er hat sich so oft gewandelt, so oft am eigenen Schopf aus dem Dreck gezogen, den andere ihm hinterlassen haben. Und er hat sich geirrt. Total geirrt.“

Anne Rabes „Die Möglichkeit von Glück“ hat weder etwas mit Möglichkeiten noch mit Glück zu tun. Der Blick bleibt in die Schuldzusammenhänge der Vergangenheit geheftet. Er richtet sich nie nach vorn. Er hat auch nichts mit Glück zu tun. Rabe berichtet nur von Leid, Trauer und Unglück. Die Sprache gleitet über diese Ereignisse harmlos hinweg, so dass sich „Die Möglichkeit von Glück“ wie ein Entwurf- und Skizzenbuch liest. Viele Fragen bleiben offen. Viele Handlungsstränge finden kein Ende oder eines im innerliterarisch verordneten Tod der betreffenden Figuren. Komposition, Fehlanzeige. Als Dokument völliger Ratlosigkeit, aber sehr überzeugend.  

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