Bernhard Schlink: “Die Enkelin”

Bernhard Schlink: "Die Enkelin"

Eine literarische Antwort auf politische Hilflosigkeit. Ein kurzes Aufatmen im Gefüge.

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Bernhard Schlink schreibt mit „Die Enkelin“ den Gegenroman zu Juli Zehs „Über Menschen“, knüpft an Edgar Selges Familiendrama „Hast du uns endlich gefunden“ an und vermittelt im Unmöglichen, was Christoph Hein in „Guldenberg“ nicht gelingt. Er verfällt weder in Bevormundung, Belehrung, noch in resignierter Selbstbeschimpfung wie Heinz Strunk „Es ist immer so schön mit dir“, noch imaginiert er die Versöhnung einer auf Grund gelaufenen Ehe wie Daniela Krien in „Der Brand“. Kurzum, Schlink gelingt mit „Die Enkelin“, was wenigen in der Gegenwartsliteratur gelingt. Er deeskaliert mit Sprachgefühl und kommuniziert weder mit Ehrfurcht noch mit Herablassung.

„Die Fahrt durch den Regen, die Tropfen, die an der Scheibe herabliefen, schnell oder langsam, in kürzerer oder in längerer Spur – es machte Kaspar traurig. Manche Tropfen blieben klein, andere verschmolzen miteinander und wurden groß, alle wurden früher oder später vom Wind fortgeweht. Natürlich wusste er, dass die Tropfen nicht die Vergänglichkeit und Vergeblichkeit des Lebens offenbarten. Sie offenbarten auch nicht, dass Menschen ihre Wege nehmen und nicht zueinanderfinden, wenn der Wind des Schicksals sie nicht miteinander verschmilzt. Und doch quälte ihn alles dies.“

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Susanne Abel: “Stay away from Gretchen”

Susanne Abel "Stay away from Gretchen"

Als Dokument 5 von 5 Sternen, aber nicht als Literatur. Kaum mehr als ein Bericht.

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Nachdem es nun schon seit Monaten in den Top-Seller-Listen aller renommierten Buchverkäufern gewesen ist, habe ich mich entschlossen, es nun doch zu lesen. „Stay away from Gretchen“ von Susanne Abel schreckte mich bislang (im Buchpreview) ob seiner kargen, ja, fast trostlosen sprachlichen Einfachheit und Sprödigkeit ab. Das Probelesen fand seine Bestätigung. Susanne Abel berichtet. Sie formt keine Ereignisse. Sie gibt zu Protokoll. Sie schreibt hintereinander weg, was gesehen wird. Ein Zeugenbericht, wie intensiv auch immer, wird jedoch zu keiner literarischen Form, wie sehr sich das neumodische Schreiben dies auch auf die Fahne schreibt und in der neuen Sachlichkeit der Bauhaus-Philosophie zelebriert.

„An der Tür einer Baracke drehte er sich noch einmal um und winkte. Greta hob ihre Hand. Am liebsten wäre sie ihm hinterhergerannt. Aber sie blieb stehen. Und sah ihn in der Tür verschwinden. Sie blieb. Wie versteinert. Lange und frierend. Bis sie verstand, dass die Tür verschlossen blieb. Dann ging sie durch die Kälte die zwei Kilometer nach Hause in die kleine Altstadtwohnung.“

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Edgar Selge: “Hast du uns endlich gefunden”

Edgar Selge: "Hast du uns endlich gefunden"

Wo Geschichtsbedrängtheit sich Ausdruck bricht und Verzweiflung in Hoffnung verwandelt wird.

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Edgar Selge spricht. Er schreibt seine Lebensgeschichte. Er hat den Mut, in die Zonen seiner Familiengeschichte hinabzusteigen, die schmerzen, die Schuld, Reue, Verzweiflung und Empörung auslösen, Enge, Bedrängtheit, ein Schacht und Tunnel ohne Ausweg und Fluchtmöglichkeit. “Hast du uns endlich gefunden” ist ein Juwel im Genre der Biographie-Literaturen, artististisch, komplex, doch hautnah und simpel, aufwühlend und sachlich, souverän und doch bodenlos von Hilflosigkeit geplagt.

“Zwei verknäulte Menschen im Halbdunkel, die immer wieder aufstöhnen und schließlich gemeinsam aufs Bett sinken, sich sitzend weiter ineinanderkrallen und den Schmerz in den Körper des anderen hineinheulen. Unerreichbarer als je, wie auf einem anderen Stern scheinen sie zu sein, einem Stern, von dem auch ich stamme, der aber gerade an mir vorbeizischt.”

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Jenny Erpenbeck: “Kairos”

Jenny Erpenbeck: "Kairos"

Trabantenstädte der Tristesse: Freie, sprachgewandte Literatur auf der Höhe der Zeit.

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Jenny Erpenbecks Roman „Kairos“ reiht sich thematisch zunächst nahtlos in die typische Gegenwartsliteratur ein. Es handelt vom geteilten Deutschland, vom Leben in der DDR, von den Versuchen einer Vergangenheitsaufarbeitung, von Politik, Liebe und Sadomasochismus, von alter Mann trifft und liebt junge Frau, Braunhemden, Ostalgie und Walter-Ulbricht-Traumata. Überraschenderweise wendet sich das Blatt nach hundert Seiten jedoch. Waren die ersten Kapitel mühsam, karg, langweilig, geradezu nebensächlich, adjektivlos, flach, so beginnt nach etwa hundert Seiten eine Tour de Force der spracherfrischenden Fremd- und Selbsterforschung.

„Etwas beginnt, etwas geht zu Ende – oder erfüllt sich. Aber dazwischen windet die Zeit sich ins Leben hinein, verflicht sich, verwächst sich, ist nur eines nie: gleichgültig, sondern immer gespannt, eingespannt zwischen einem Anfang, den man nicht wahrnimmt, weil man mit dem Leben beschäftigt ist, und einem Endpunkt, der in der Zukunft, also im Dunkel, liegt.“

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Dirk Rossmann und Ralf Hoppe: “Der Zorn des Oktopus”

Dirk Rossmann und Ralf Hoppe: "Der Zorn des Oktopus"

Nicht ärgerlich … aber auch nicht gut. Drehbuchskizze für den späteren Film oder Serie?

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Reichlich beworben, hochaktuell und mit brisantem Thema. Keine Recherchen gescheut, ausführlich und investigativ-innovativ. Es besteht aus Buchstaben, nein Wörtern. Manchmal sogar ganzen Sätzen. Es lässt sich nicht nur ansehen, sondern auch lesen. Was kann es sein?! Licht aus. Vorhang auf. Es ist ein Roman. Der Roman und die Fortsetzung von „Der neunte Arm des Oktopus“, nämlich Dirk Rossmanns und Ralf Hoppes Gemeinschaftswerk „Der Zorn des Oktopus“. Der Mega-Bösewicht wagt, wie das Autorenpaar, den Blick in die Zukunft:

„Ich [Amitav Rama Shah] spürte Geschehnisse, die sich aufbauten. Sehr verschwommen, anfangs. Es war wie ein Spiel. Aber ich habe diese Fähigkeiten trainiert, sie stärker und geschmeidiger gemacht. So kann ich manchmal einen Blick in eine andere Ebene, in die Zukunft fühlen. Aber in bescheidenem Ausmaß. Doch darum merke ich, wenn ich einer starken Begabung begegne.“

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