Edgar Selge: “Hast du uns endlich gefunden”

Edgar Selge: "Hast du uns endlich gefunden"

Wo Geschichtsbedrängtheit sich Ausdruck bricht und Verzweiflung in Hoffnung verwandelt wird.

Ausführlicher, vielleicht begründeter: https://kommunikativeslesen.com/2021…

Edgar Selge spricht. Er schreibt seine Lebensgeschichte. Er hat den Mut, in die Zonen seiner Familiengeschichte hinabzusteigen, die schmerzen, die Schuld, Reue, Verzweiflung und Empörung auslösen, Enge, Bedrängtheit, ein Schacht und Tunnel ohne Ausweg und Fluchtmöglichkeit. “Hast du uns endlich gefunden” ist ein Juwel im Genre der Biographie-Literaturen, artististisch, komplex, doch hautnah und simpel, aufwühlend und sachlich, souverän und doch bodenlos von Hilflosigkeit geplagt.

“Zwei verknäulte Menschen im Halbdunkel, die immer wieder aufstöhnen und schließlich gemeinsam aufs Bett sinken, sich sitzend weiter ineinanderkrallen und den Schmerz in den Körper des anderen hineinheulen. Unerreichbarer als je, wie auf einem anderen Stern scheinen sie zu sein, einem Stern, von dem auch ich stamme, der aber gerade an mir vorbeizischt.”

In diesem Roman findet keine Vergangenheitsaufarbeitung statt, hier wird nicht Resümee gezogen, etwas abgeschlossen, eine Moral der Geschichte konstruiert. “Hast du uns endlich gefunden” legt Zeugnis von einem Innwerdungsprozess ab, der nie aufhört, nicht aufhören kann, da diese und keine anderen Dinge geschehen sind, da die Eltern diese Eltern, die Brüder diese Brüder sind, der Vater prägend, die Mutter behütend, sich in einem fort Schatten und Licht vermengen, wo Sicherheit und Geborgenheit vom Kinde ersehnt wird.

All dies ersehnt der Ich-Erzähler. Er sucht den Dialog, nicht die Absolution. Er erfindet Gespräche mit dem toten Bruder, mit dem toten Vater. Er ruft sich die wenigen wichtigen, kristallisierenden und einschneidenden Lebensereignisse vor Augen. Er steht allein mit dem Gewicht, und das Buch, der Text, er als Schreiber, kommunizieren, entlasten und erneuern sich gegenseitig. Hier bewegt Literatur. Hier existiert Hoffnung als Dialog obgleich imaginär, obgleich illusionär – im Verfassen und Veröffentlichen selbst liegt eine Hoffnung, die während des Verfassens und Schreibens möglicherweise noch nicht einmal zu erahnen war.

“[…] denn ich entdecke, dass dieser Maler [Rembrandt] eine einzigartige Fähigkeit besitzt. Seine Farbe erzählt den Zerfall. Er malt nichts anderes als den Übergang der Welt in Moder, ganz gleich, ob es sich um Steine, Stoffe oder Menschenfleisch handelt. Was für eine berauschende Entdeckung. Mir jagt das Blut durch die Adern und verrät mir, dass ich Teil dieses Kreislaufs bin. In einem Augenblick habe ich begriffen, dass es der Zerfall ist, der uns zusammenhält. Der alles zusammenhält. Wie in einem feinen Regen vibriert die ganze Welt im Zerfall.”

Der Ich-Erzähler ist selbst ein solcher Maler. Er zeigt den Niedergang, oder das Niederbleiben seiner Familie, die Hoffnungen, die vergeblich schienen, der Stolz, der ihn den Untergang führte, die Geschichtsversessenheit und das Festhalten an Verlust und Niederlage als Rechtfertigungsprogramm der Verbrechen und Gewalttaten der Nationalsozialisten. All dies im Rahmen der humanistischen Kernfamilie. “Hast du uns endlich gefunden” von Edgar Selge ist eine gelungene Erneuerung von Alfred Anderschs “Vater eines Mörders”, von Ingeborg Bachmanns Erzählung “Unter Mörder und Irren”, von Thomas Bernhards “Auslöschung” und Robert Musils “Die Verwirrung des Zögling Törleß”.

Mit anderen Worten ein Lichtblitz und Lichtpunkt in der Gegenwartsliteratur, die nur allzuoft nüchtern und aufgeklärt sein will, aber die Niederungen und Wunden, die wahrhaft schmerzlichen Einsichten und Erinnerungen zu oft überspült und den Schmerz gar nicht zulässt. Nicht so Edgar Selge. Er exponiert sich bedingungslos, und hierfür verdient sein Buch gelesen und immer wieder gelesen zu werden.

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