Emine Sevgi Özdamar: “Ein von Schatten begrenzter Raum”

Emine Sevgi Özdamar: "Ein von Schatten begrenzter Raum"

Authentische Selbstbeschreibung: Erschütternd und ermüdend zugleich.

Ausführlicher, vielleicht begründeter: https://kommunikativeslesen.com/2022…

Bachmann-, Kleist-, Fontane-Preisträgerin Emine Sevgi Özdamar taucht in ihrem Roman „Ein von Schatten begrenzter Raum“ in die Untiefen der eigenen Laufbahn und Künstlerverwirklichung ein. Der Roman ist mehr ein Dokument, eine Zeitreise durch das politisierte, rebellierende, nach Authentizität und Relevanz strebende Künstler- und Theatermilieu der 60er, 70er, und 80er Jahre rundum Benno Besson, Matthias Langhoff, Claus Peymann und Ruth Berghaus. Die Protagonistin, eine Ich-Erzählerin, startet ihre Reise auf einer der Türkei vorgelagerten Insel im Mittelmeer, von der aus Lesbos, die griechische Insel, zu sehen ist:

„Und von beiden Küsten aus sehen die Menschen jeden Abend die Lichter der anderen Küste, an der ihre Großeltern gelebt haben, und wenn ein Grieche vor Lesbos ertrinkt, taucht seine Leiche hier an dieser türkischen Insel auf, und wenn ein Türke hier ertrinkt, taucht seine Leiche vor Lesbos auf. Die Winde und das Meer tauschen die Toten und bringen sie zu ihren Ursprungsorten.“

Der wahre Protagonist des Romans ist die Leere, der von Schatten begrenzte Raum, die Heimat, das Zuhause, die Zugehörigkeit. Das Meer zwischen Lesbos und der unbenannt bleibenden Insel, die Lücke, die die Türkei von Europa trennt, die Strömung, der Wellengang, sie werden zu einem Sehnsuchtspunkt, der alles möglich werden lässt, der trennt, verbindet, auf eine Brücke hofft. Griechenland repräsentiert als Wiege die europäische Kultur, die für die Ich-Erzählerin zur Ersatzheimat wird. Sie sucht ihr Obdach. Wie eine Fuge komponiert, durchzieht eine Frage den Roman:

„Wo wohnen sie, Madame?“

Die Frage wird vielfach beantwortet. Die Protagonistin wohnt in einem Yasujiro Ozu Gedicht, in Catherine Deneuves Haaren, in Tina Turner, Hannah Arendt, in einem schönen Apfel, im Lächeln eines Drehorgelspielers und vielen weiteren Orten und Personen. Die Komposition ist klar. Die Struktur, von der Insel im Mittelmeer ausgehend, führen konzentrische Kreise hin und zurück nach Europa, eine Reise durch die eigene Empfindsamkeit auf der Suche nach dem verlorenen Ich. Viele Wiederholungen erzeugen Wiedererkennbarkeit, Liedcharakter. Sie bezeugen das Trauma der Wiederkehr der immergleichen Fragen und Ängste. Die Protagonistin findet sich nicht.

„Ähnlich wie auf den Bildern von Francis Bacon wachsen aus dem Körper der Frau, die ich bin, aus ihren Armen, Beinen, aus dem Kopf und vom Tisch, vom Stuhl, aus den Blättern vor ihr, vom Telefon, aus den paar Büchern, die auf dem Fensterbrett stehen, Schatten. Sie wachsen ineinander bis zu einem großen Schattenklumpen […] Der Rest des Raumes ist ohne Schatten. Deswegen sieht es nur dort, wo der Schatten gewachsen ist, wie ein Raum aus, ein von Schatten begrenzter Raum.“

Özdamars Stil ist repetitiv, eindringlich, wiederkehrend, surreal, traumatisierend. Die Sprache zerstückelt sich selbst. Bruchstücke der Hoffnung, versprengte Sentimentalität, verlorenes Gleichgewicht. Die Sätze brechen auseinander. Sinn versperrt sich. Horizonte öffnen sich ins Leere und verschmelzen mit Angst und Enge zu einem bodenlosen Verfolgt-Sein. Der Roman unterhält nicht. Er konfrontiert. Wären nicht die formalästhetischen Bezugnahmen auf Allegorie und Metaphorik, gliche er konsequent einer Reportage, mit Kamera auf der Flucht zwischen Istanbul, Paris, Berlin, und Bochum. Die formalästhetischen Rahmenbedingungen langen jedoch nicht hin. Das Material erscheint roh, harsch, krass und intensiv. Es springt einem beim Lesen ins Gesicht und läuft einem kalt den Rücken herab.

„Die Schatten liefen, Schatten überquerten die Straße, Schatten blieben stehen, Schatten hatten das Leben, das leblose Leben besetzt, die Menschen besiegt, nur der blinde Mann mit dem Loch im Hals und der blassen hellbraunen Haut war als Mensch übrig geblieben. Er saß da zwischen den an ihm vorbeilaufenden Schatten und den unendlichen vielen Baustellen, die die ganze Stadt mit Bohrmaschinen, Hämmern, Zement, lauten Geräuschen unbarmherzig erwürgten. Nur die Toten retteten diese Stadt – wo es Friedhöfe gab, gab es keine Baustellen.“

Atemlos verfolgt man die Protagonistin auf der Suche nach Halt, nach einem Zuhause, das sie nicht zu finden vermag. Sie reist nicht gern. Sie ist allein. Sie fühlt sich verfolgt, missverstanden, verbannt. Das Buch entzieht sich der Wertung. Weder unterhält es, noch informiert es, noch bezaubert es. Es ist ein Dokument. Es beschreibt einen Zustand der Angst. Die Kunst, so das Resümee, langt als Heimat nicht hin. Sie ist zu kurzlebig und unverbindlich. Wenn im Theater der Vorhang fällt, beginnt das Grauen von Neuem.

6 Gedanken zu „Emine Sevgi Özdamar: “Ein von Schatten begrenzter Raum”“

    1. Das Buch geht auch sehr nahe. Özdamar legt alle Karten auf dem Tisch. Sie zeigt alles. Ein sehr ungewöhnliches, trotz aller formaler Anstrengungen dennoch rohes, unmittelbares Buch. Es ist, als würde man ihr auf einem Spaziergang zuhören, wie sie von ihrem Leben erzählt. Ich wünsche dem Buch viele LeserInnen. Dir einen schönen Wochenendanfang! Hier in Berlin ist es sonnig und es zwitschern die Vögel.

    1. Dieses Buch ist außergewöhnlich – weil es sehr persönlich und zugleich sehr durchkomponiert ist. Man hat das Gefühl, dass die Komposition nur dafür da ist, um den Echtheitscharakter der Beschreibung umso mehr zu unterstreichen. Es lohnt sich und hinterlässt sehr viel. Ich bin mir sicher, du wirst sehr viel Freude mit dem Buch haben. Guten Start in die Woche!

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