Robert Seethaler: „Das Café ohne Namen“

Das Café ohne Namen

Eine Schmonzette, aber eine gute. Kurzweilig und rührselig.

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Es gibt eine Form der Belletristik, die nichts als Trauerverarbeitung sein will. Sie ist sentimental. Sie ist kitschig. Sie ist voller Phrasen und Plattitüden, voller Banalitäten und rührseligen Anekdoten. Sie lebt von der Beständigkeit ihrer Figuren, den unerschütterlichen Glauben an das eigene und das Glück der nächststehenden Menschen, von Bekannten, Freunden und an das aller anderen. Bücher wie „Das Café ohne Namen“ von Robert Seethaler sind schlicht und ergreifend Rührstücke:

Manchmal dachte er an den Anfang zurück, an den Fliegenschwarm, der sich wie ein schwarzer Schleier hinter dem Tresen erhoben hatte, an den Geruch der frisch geschliffenen Dielen und der Dämpfe, die ihm beim Streichen der Möbel die Sinne vernebelt hatten. Er dachte an den Tag, an dem Mila aufgetaucht war, an den ersten Winter mit Punsch und an seine weißen Finger, die von einem Feuerwehrmann zwischen zerfetzten Metallteilen gefunden, in ein Taschentuch gewickelt und mit Blaulicht ins Spital gefahren worden waren.

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Dinçer Güçyeter: „Unser Deutschlandmärchen“

Unser Deutschlandmärchen

Eine gerettete Zunge, wild und widerständig, auf der Suche nach sich.

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Dass das Fremde ein Allgegenwärtiges sein kann, dass vielleicht das Nächste das Unbekannteste ist, dass im Alltäglichen Schätze ruhen und Mysterien weiterbestehen, davon berichtet Dinçer Güçyeter in seinem Roman „Unser Deutschlandmärchen“, der mit dem Preis der Leipziger Buchmesse 2023 ausgezeichnet worden ist. Er steht im Zusammenhang mit Fatma Aydemirs „Dschinns“ und lässt sich als Gegenentwurf zu Kim de l’Horizons „Blutbuch“ lesen. Wie in Aydemirs Roman geht es um eine türkische Familie, die in Deutschland lebt; wie in „Blutbuch“ geht es um den Versuch, eine ganz eigene Sprache und Selbstbestimmung zu finden. Im Gegensatz zu beiden steht aber ganz klar die Liebe zur Mutter im Vordergrund:

Ich wollte dich verstehen, ich wollte dir näherkommen und fiel dabei immer tiefer in den Brunnen, so tief, dass manchmal kein Lichtstreifen mehr zu sehen war. Dich wollte ich entlasten, nun spüre ich eine Fracht in mir, die unmöglich zu tragen ist. Darüber zu schreiben, versetzt mich in Scham, aber ich muss darüber schreiben, es gibt keinen anderen Ausweg mehr.“

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Eugen Ruge: „Pompeji oder Die fünf Reden des Jowna“

Pompeji oder Die fünf Reden des Jowna

Eine im jovialen Ton verfasste Ohrensessellektüre für zwischendurch.

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Eugen Ruges neuester Roman „Pompeji oder Die fünf Reden des Jowna“ sticht aus der Reihe der Neuerscheinungen deutlich heraus. Weder nimmt er Stellung zu den breitdiskutierten Themen der Gegenwart noch bemüht er ein autofiktionales Setting zur Traumabewältigung. Die digitale Welt spielt keine Rolle. Von E-Mails, SMS, von sozialen Medien keine Spur. Wie auch? Der Roman behandelt die letzten Monate vor dem Untergang Pompejis:

„Ungefähr neun, vielleicht auch zwölf Stunden nach Josses letzter Rede sackte die überschwer gewordene Wolke aus Asche und Feuer in sich zusammen und stürzte mit einer Geschwindigkeit eines Armbrustpfeils in das Tal, ergoss sich über die Stadt, überstieg Mauern, drückte Türen ein, strömte durch Ritzen und Fenster. Vielleicht hat Josse noch gespürt, wie seine Lungen verglühten.“

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Benjamin von Stuckrad-Barre: „Noch wach?“

Noch wach

Außer Spesen nichts gewesen. Ein didaktischer Hip-Hop-Roman.

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Stuckrad-Barres Titel von seinem neuen Roman „Noch wach?“ versteht sich nach dem Lesen als mehrdimensionales, in sich verspiegeltes Versteckspiel. „Noch wach?“ bezieht sich auf den englischen Begriff „woke“, aber auch auf die Kurznachrichten eines Chefredakteurs, die er seinen Mitarbeiterinnen tief in der Nacht schickt in der Hoffnung, dass sich noch ein Treffen zwischen ihnen ergibt. In äußerster Verdichtung mischen sich kommunikative Formen der Läuterungs- und Nötigungsversuche der Moderne. Stuckrad-Barres Text stellt die Frage, ob sich das Publikum diesseits oder jenseits von „woke“, diesseits oder jenseits von #MeToo, diesseits oder jenseits von sexueller Belästigung und Machtmissbrauch befindet:

Arbeitsrechtlich ist das ein scheiß Minenfeld. Aber ich meine, ganz unter uns gesagt: Was willst du von dem Drecksblatt auch anderes erwarten? Mein Freund schaute angewidert und bat mich, ihm abermals den Post des früheren BILD-Chefredakteurs zu zeigen, das frühmorgendliche Foto vom See, samt der irgendwie spät(sehr spät)pubertär-stolzen Meldung, dass er NOCH wach sei.

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Olga Tokarczuk: „Empusion“

Empusion

Ein Roman jenseits von Grenzen und Differenzen.

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Empusion“, der erste Roman von Olga Tokarczuk seit dem Erhalt des Literaturnobelpreises 2019, spielt in Görbersdorf, im preußischen Schlesien gelegen, im Jahr 1913. Viele Rezensionen weisen auf die klare Bezugnahme Tokarczuks auf Thomas Manns Roman „Der Zauberberg“ hin. Die Parallelen fallen sofort ins Auge:

Der Doktor erhob sich schwungvoll, reichte Wojnicz den Zettel mit seinen Anweisungen. Das also war es. Jetzt war er aufgenommen. Nun saß er wieder im Wartezimmer, und die unansehnliche Krankenschwester bereitete sein Behandlungsbüchlein vor sowie weitere Dokumente, die er benötigte. Er zog die gefaltete Broschüre aus der Tasche und las zu Ende, was er begonnen hatte:
»Allgemein muss gesagt werden, dass in Hinsicht der Heilung bislang Aufenthalte in Kurorten wie Meran in Tirol, im schlesischen Görbersdorf oder im nach Görbersdorfer Vorbild eingerichteten schweizerischen Davos die beste Wirkung erbringen.«

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