Julia Jost: „Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht“

Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht

Subversives Schreiben gegen das ländliche Kärntner Idyll. Eine poetische Aufruhr aus der Sicht seines kindlichen Wildfangs.

Wer, was ich erst durch den Kauf des Hardcover-Exemplars von Julia Josts Roman erfuhr, Geleitworte von Elfriede Jelinek auf dem Umschlagtext erhält und dieser sogar expliziert am Ende ihres Buches dankt, muss zumindest irgendetwas Textliches gewagt haben. Julia Jost wagt indes viel. Sie beschreibt aus der Sicht einer Heranwachsenden, das Alter der 1982 geborenen Ich-Erzählerin schwankt zwischen sieben und dreizehn Jahren, das Leben und Aufwachsen in Kärnten unter, so ließe sich mit Ingeborg Bachmann zusammenfassen, Mördern und Irren:

Obwohl der vulgo Focknhocker keine drei Kilometer vom Gratschbacher Hof entfernt wohnt, er dieselben Bäume anschaut wie ich und Schwalben, derselbe Geruch in ihn eindringt, er vom gleichen Speck isst und die gleiche Milch trinkt, obwohl er, wie ich, erst nach und nach den zweibeinigen Gang und die Artikulation mit der Zunge gelernt hat, obwohl sein Dialekt dem meinen gleicht, kam er mir in jenem Augenblick unüberbrückbar fremd vor.

Fremd sind der Ich-Erzählerin so ziemlich alle, vielleicht vom vier Jahre älteren Bruder Johan und ihrer Jugendliebe Luca, der Nachbarstochter, einmal abgesehen. Die Mutter, Lehrerin, der Vater, Autoverkäufer, der älteste Bruder Motorradverrückter gehen sehr eigenwillige Wege. Sie schmettern nationalsozialistische Lieder, gehen jagen, saufen, bauen die Häuser auf und beteiligen sich an der Schmierenoperette, die sich aller Ortens Politik nennt, nicht ohne selbst mächtig Federn zu lassen. Ihre Intensität und Vehemenz, mit denen Jost alle Figuren durch die Welt schreiten lässt, zwingen das junge Mädchen oft zum Rückzug:

Das Fahrrad ist ein Erbstück meines Bruders Johan, und ich durchbreche damit kaum einmal die Grenzen unserer umliegenden Wälder, um ins nächste Dorf zu fahren. Die Wälder genügen mir als Gegenüber. Manchmal liege ich stundenlang auf einem Moosbett, mit schwarzbeergefärbten Lippen, die eine Eichel-Pfeife halten. Ich liege auf der Lichtung, die auch Blöße genannt werden könnte oder Fratn, wie die Älteren sagen, ein unbedeutender, kleiner Wald-Parasit bin ich und phantasiere unter den Baumwipfeln.

Zentrales Erzählereignis stellt das traumatisierende Verunglücken eines gleichaltrigen Jungen namens Franzi dar, der beim Spielen und Versuch, ein Messer aus einem Brunnen zu holen, ums Leben kommt. Die Ich-Erzählerin kämpft mit ihrem schlechten Gewissen, denn sie hat Franzi zum Waldhaus mitgenommen; und sie kämpft auch gegen die Gleichgültigkeit ihrer Mitmenschen, ihrer Familie, dem Leiden andere, der Natur, Mensch wie Tier gegenüber. Ihr Kämpfen erhält, im erzählerischen Schwung, eine Distanzierung, die ohne Urteil und Denunziation vonstattengeht. Sie rüttelt mächtig am symbolischen Gewebe, bis die Fetzen fliegen und die goldenen Äpfel ihr in den Schoß fallen. Die Allegorie schlechthin gibt sie in ihrem Text selbst:

Die Mutter murmelte [wegen der vorsätzlichen Beschmutzung der Chaiselongue] hochtemperiert in der Küche vor sich hin, während der Vater im Wohnzimmer meine Brüder schlug. Aber diesmal mischte sich in das Gürtelschnalzen schon bald Hanis Lachen, und zuerst dachte Thomas, sein kleiner Bruder sei übergeschnappt, aber dann musste er selbst auch lachen, und so lachten die Buben und lachten und lachten. So dass auch ich, die ins Kinderzimmer Verbannte, mitlachen musste. Es war das letzte Mal, dass der Vater meine Brüder schlug.

Dem Irrsinn mit humoristischer Verve die Stirn bieten, hierhin gleicht Julia Jost der italienischen Autorin Claudia Durastanti aus „Die Fremde“. Jost wendet den Jelinekschen Bierernst ins Leichte und Verspielte, ohne an Schärfe einzubüßen. Der gesellige Blick der Ich-Erzählerin auf die Mit- und Umwelt erlaubt einen Rundumschlag, der sich gewaschen hat. Mit einem Rauschen bläst sie den Staub aus der Sprache und gleicht in vielerlei Hinsicht sogar, nur weniger stilistisch verschwurbelt, Jean Paul aus bspw. „Siebenkäs“. Lachen, so vielleicht die Lektion, und zwar ungerichtetes Lachen öffnet unerwartete Wege.

Ärgerlich: ein paar stilistische Ungereimtheiten, und eine störende, langatmige Anekdote ihres Bruder Thomas, die den Erzählfluss empfindlich stört und sogar unterbricht; sowie eine psychoanalytisch erzwungen erscheinende Metaphorisierung.

Erfreulich: gekonnte Wiederaufnahme der gewählten Symboliken durch den ganzen Text hindurch, so dass das Schreiben einen Klang, eine Stimmigkeit, einen Zug und Richtung erhält; Sprachwitz und großer, teilweise mundartlicher Wortschatz.

Inhalt: 4/5 Sterne (Kindheitserinnerung und Trauma)
Form: 5/5 Sterne  (Verve und Eindringlichkeit)
Komposition: 4/5 Sterne (kreisende, sich bestärkende Symbolik)
Leseerlebnis: 5/5 Sterne (ein überzeugendes Ich-Erwachen)

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