Han Kang: „Griechischstunden“

Griechischstunden

Durch einen Spiegel in einem dunklen Wort – die Stimme zurückfinden.

Viele Romane streben heutzutage eine Literatur der kleinen Form an. Sie besteht in äußerst verdichteten Minimalszenerien, die sofort, ohne längeren Aufschub, auf die Erzählidee eingehen, den inneren Konflikt thematisieren und auf nur wenigen Seiten dann, oftmals sogar berechenbar, diesen auflösen. Im Zentrum dieser Art Literatur steht oftmals ein bereits auf viele Weise tradierter Stoff wie bei Alan Lightman in „Und immer wieder die Zeit“ Einsteins Relativitätstheorie, oder bei Cees Nootebooms „Rituale„, die japanische Teezeremonie. Bei Han Kangs „Griechischstunden“ steht Platons Idee auf dem Programm, das Übersinnliche, Überzeitliche, das Nicht-Sichtbare:

Aber stimmt das überhaupt? Hat mich Platons Universum aus den Gründen fasziniert, die du angeführt hast [die drohende Blindheit] – und so, wie ich schon zuvor vom Buddhismus angezogen wurde, weil er sich mit einem einzigen Schnitt vom spürbaren Dasein loslöst? Weil es mir bestimmt war, den sichtbaren Teil der Welt zu verlieren?

In dem Roman „Griechischstunden“ finden eine Lehrerin, die ihre Stimme verloren hat, und ein Lehrer, der fast vollständig erblindet ist, zueinander. Mit verschiedenen Stilmittel inszeniert Kang dieses Kennenlernen zweier sehr zurückgezogener, sich versteckender, verängstigender Menschen. Die behutsame Art, wie sie zueinander finden, gibt dem Buch die innere, klare Linie, die es benötigt, um um diese eine Wolke assoziativen Dichtens und Schwebens, eine Atmosphäre des Sich-Verlierens in der Sprache zu inszenieren:

Herz an Herz gepresst, kennt er die Frau immer noch nicht. Er weiß nicht, dass sie als Kind in den dämmrigen Hof ihres Wohnhauses starrte und sich fragte, ob sie überhaupt das Recht hatte, auf dieser Welt zu sein. Er kennt den Panzer nicht, dessen Kettenglieder aus Wörtern ihren nackten Körper wie tausend Nadeln stechen. Er weiß nicht, dass sich ihre Augen in seinen spiegeln und umgekehrt … bis ins Unendliche. Er weiß nicht, dass sie ihre bläulich-violetten Lippen fest geschlossen hält, weil all dies ihr Angst macht.

„Griechischstunden“ spielt auf der Klaviatur des bewusst-eingegangenen Verzichts, um durch diesen, durch den Abstand, durch diese Klinge, die Träume von Realität, Worte von Bedeutung, Gefühle von Anschauungen trennt, das, was noch nicht ist, was nur sein könnte, eine besondere Bewandtnis zu verleihen. Wer jahrelang nicht spricht, dessen erstes Wort bedeutet etwas. Wer jahrelang flieht und fortrennt, bei dem bedeutet es etwas, wenn er stehenbleibt und sich zeigt.

Aber kannst du mir glauben, wenn ich dir sage, dass ich jeden Abend das Licht lösche, ohne zu verzweifeln? Weil ich die Lider vor Sonnenaufgang wieder öffnen werde. Weil ich die Vorhänge aufziehen und das Fenster aufreißen werde, um den verhangenen Himmel durch das Mückennetz hindurch zu sehen. Weil ich in meiner Phantasie, nur in einer dünnen Jacke, das Haus verlassen und Schritt um Schritt auf düsteren Gehsteigen entlangwandeln werde. Weil ich beobachte, wie das Gewebe der Dunkelheit allmählich ausfranst, die bläulichen Fäden sich auf meinen Körper und die Stadt legen.

In dichter Atmosphärik zieht Han Kang auf engsten Raum alle Register, die die Emotionen zweier Menschen bewegen, denen die Welt abhanden gekommen ist. Sie träumen von Platons Ideen als zeitenthobene Entitäten, weil sie noch nicht im Kreislauf des Lebens Eingang gefunden haben. Sie träumen und wandern durch die Stadt ihrer Kindheit auf der Suche nach sich selbst, und Han Kang stärkt ihnen mit ihren „Griechischstunden“ den Rücken. Ein hoffnungsvolles, weites, sich öffnendes Buch, das mich über weite Strecken an Cees Nooteboom erinnert hat, der eine ähnliche freundliche und poetische Sicht auf die Welt zu haben pflegt.

Inhalt: 4/5 Sterne (zarte Liebesgeschichte)
Form: 5/5 Sterne (melodiöses, lyrisches Herantasten)
Komposition: 3/5 Sterne (vorhersehbar, aber mit Liebe zum Detail)
Leseerlebnis: 4/5 Sterne (glänzendes Kleinformat)

Ein Gedanke zu „Han Kang: „Griechischstunden““

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