Omri Boehm, Daniel Kehlmann: „Der bestirnte Himmel über mir“

Der bestirnte Himmel über mir

Brainstorming über Kant. Im Schweinsgalopp über die Tiefen und Untiefen eines Denkens hinweg.

Im Kant-Jahr, am 22.4.2024 wird der 300. Geburtstag gefeiert, gibt es viele Einführungs- und Festschriften, sogenannte Liber Amircorum, worin eben schon die Freundschaft selbst anklingt, die sich Omri Boehm und Daniel Kehlmann festlich mit ihrem Buch über Kant „Der bestirnte Himmel über mir“ gegenseitig bestätigen. Da es sich selbst als „Ein Gespräch über Kant“ ausweist, lassen sich folgende Dialog Fetzen erklären:

Boehm: Aufzuwachsen ist nicht etwas, das auf natürliche Weise oder in Übereinstimmung mit der Natur geschieht …
Kehlmann: Gegen die Natur sogar!
Boehm: Anders als bei Tieren ist das Heranreifen eines Menschen eine Leistung, die von uns abhängt – sie fällt in unsere Verantwortung. Das ist der Schlüssel zur Idee der Aufklärung. Im Unterschied zu Tieren, die von Natur aus nicht anders können, als reif zu werden – es sei denn, sie werden durch äußere Umstände daran gehindert –, ist Reife für uns kein natürlicher Zustand.

Selbstredend fällt und steht hier alles damit, was Reife, Aufwachsen, was ein natürlicher Zustand ist oder sein könnte. Wo beginnt „das Tier“, wo fängt „der Mensch“ an, etc… Mit solchen Kleinigkeiten wollen sich die beiden jedoch nicht beschäftigen. Ihnen geht es nur darum in groben und langen Schritten durch das Gesamtwerk von Immanuel Kants drei Kritiken zu hoppeln, wobei von vorneherein feststeht:

Kehlmann: Wir sind der Natur unterworfen, und zugleich sind wir ihr unendlich überlegen. Das Meer kann uns physisch töten, aber moralisch kann es uns nichts anhaben. Und diesem Meer, so würde ich sagen, entspricht der alternde Körper.

Die Quintessenz des Buches “Der bestirnte Himmel über mir” besteht darin zu betonen, dass sich Kant in Ambivalenzen und Paradoxien zu denken traut und dass diese Art zu denken, gegen sich selbst, gegen die eigene Voreingenommenheit leichter fällt, wenn dezidierte Denkschemata eingehalten werden (so Boehm, Kehlmann nickt). Neben den Amphibolien der Reflexionsbegriffe gesellt sich da schnell der kategorische Imperativ hinzu, der wie das Ding an sich und die Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht Widerspruch, Diskrepanzen und Uneinigkeit provoziert, also konstruktiv Verwirrung stiftet. Sie bestehen darauf, dass es in der Philosophie um das bedingungslose Befragen aller Dinge gehe:

Boehm: Was verrät uns der kategorische Imperativ über unsere Intuitionen? Diese Frage wäre der Hauptgewinn, denke ich, und kein geringer, wenn wir in unserer Kultur vorgegebener Intuitionen, in der die eigentliche Gefahr darin besteht, dass die Philosophie nur noch vorgegebene Antworten bereithält, die Tür zur Philosophie damit wieder einen Spalt weit öffnen könnten.

So wird aus Immanuel Kants Philosophie ein Stichwortgeber, eine Art Souffleuse, die dem müden Denken neue Denkanstöße gibt und zwar durch rigide Formelhaftigkeit. Wie weit diese Schemata und Formeln etwas taugen, wie sehr sie im Grunde die Welt erschließen, das steht nicht im Vordergrund. Hier hätte ein rigoroserer Versuch getaugt, im Vergleich zu anderen Denkschemata die Beschreibungsmächtigkeit von Kants Gedankenarchitekturen hervorzukehren. Pustekuchen.

Omri Boehm und Kehlmann führen in “Der bestirnte Himmel über mir” nun einmal ein Gespräch, nicht auf Augenhöhe, aber mit stets bezeugter, fröhlicher, ja dynamischer Sympathie füreinander. Die beiden mögen sich (zumindest auf dem Papier). Von Kant bleibt nicht viel übrig. Zwei Freunde gehen zum Fußball und zitieren ein wenig Philosophie und stellen fest, sie beide mögen Kant – ein guter Grund sich zu verbrüdern. Warum nicht? Es war ja meine eigene Schuld, mich zu ihnen zu setzen und ihnen auch noch zuzuhören, wie sie sich schulterklopfend bestätigen, dass der alte Kant im Vergleich zum ollen Baruch de Spinoza zwar noch die Nase vorn habe, aber die Sache mit den synthetischen Urteilen a priori gar nicht mehr so zeitgemäß sei und wir eigentlich nur noch alle versuchen müssten, bessere Menschen zu sein und zu werden, um Kants Denken gerecht zu werden, und das sei’s ja halt im Grunde irgendwie vom Gehalt der kritischen Schriften her schon. Na Prost!

Inhalt: 1/5 Sterne (freundschaftstrunkenes Zuprosten)
Form: 2/5 Sterne (etwas peinliche Dialogform)
Komposition: 1/5 Sterne (Abklappern von Allgemeinplätzen)
Leseerlebnis: 2/5 Sterne (Nebenherlesen)

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