Sylvie Schenk: „Maman“

Maman

Freundlich, zurückhaltend, selbstkritisch. Autofiktion ohne Dampfhammer.

Trittbrettfahrerin Annie Ernaux‘ à la „Das Ereignis“? Möchtegern-Roman im autofiktionalen Stil wie Julia Schochs „Das Liebespaar des Jahrhunderts“? Familien-Muff wie in Birgit Birnbachers „Wovon wir leben“? Autobiographische Lamentiererei wie in Arno Geigers „Das glückliche Geheimnis“? Es wär ein Leichtes, Sylvie Schenks Roman „Maman“ ob seiner Wellenreiterei zu verreißen – wäre da nicht ihr lakonischer, leichter, sanfter Stil, der einfach den Text zuerst Text sein lässt, vor sich hin dümpelnd, interessant, beschwingt, durchsetzt von der Melancholie, die eigene Mutter bis zuletzt und über ihren Tod hinaus nicht kennengelernt zu haben. Schenk schreibt selbstbewusst. Es ist ihre Geschichte, und sie lässt keinen Zweifel daran zu:

„Cécile stirbt. Die Zeit ist für sie aufgehoben. Lyon, das Krankenhaus, die Rhône, die ganze Welt, alles versinkt in der Dunkelheit. In den letzten Lebenssekunden wird sie wieder zum Kind, rennt die Straße vom Croix-Rousse hinunter und hält an, um zwischen den Pflastersteinen der steilen Straße einen Löwenzahn zu pflücken. Pusteblume. Musik, Akkordeon, Jahrmarkt. Freudenschreie. Ein Karussell. Etwas lacht und weint in ihr. Es flackert das Wort Auge im Nebel der Worte auf: Pusteblume, Kind, Leben, Krieg, Soldat, sie spürt ihr Gesicht zwischen zwei Männerhänden.“

„Sylvie Schenk: „Maman““ weiterlesen

Raphaela Edelbauer: „Die Inkommensurablen“

Raphaela Edelbauer: „Die Inkommensurablen“

Sprachfreudige Ideologiekritik im Vorkriegswien

Raphaela Edelbauers Roman „Die Inkommensurablen“ beginnt am 30. Juli 1914 am Wiener Südbahnhof. Schon alleine diese Zeit- und Ortsangabe verknüpft den Roman mit Robert Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“, der mit einem Augusttag des Jahres 1913 in selbiger Reichshaupt- und Residenzstadt der k. u. k. Monarchie ansetzt. Die Psychoanalyse, das Okkult-Mystische, Carl Jung, Sigmund Freud, Georg Cantor und die Suffragetten stehen in aller Munde und auch der bevorstehende Krieg mit dem russischen Zarenreich. Edelbauers Roman spielt zwischen allen Stühlen, auf den Straßen, in der Kanalisation, in den Hintergemächern des Militärs und der Oberschicht, aber auch in den Hütten und Lauben, Bruchbuden des Wiener Favoriten:

Über eine Wendeltreppe waren sie in eine Art Halle gelangt. Er musste sich die Hände vors Gesicht schlagen, um den Gestank ertragen zu können. Sie standen auf einem Grat, der hoch über einen Schacht führte, durch den das Schmutzwasser donnerte. Braun toste die Gülle in Tonnen und Abertonnen über eine Staustufe – das gesammelte Abwasser der nach allen Seiten ausgestreckten Metropole. Täglich kippten hunderttausende Frauen ihr Waschwasser in die Wien, die über der Stelle, wo die Karawane nun ihren Weg machte, mächtig in den Boden drang.

„Raphaela Edelbauer: „Die Inkommensurablen““ weiterlesen

Helga Schubert: “Der heutige Tag”

Der heutige Tag

Autofiktionale Selbstsuche unter Belastung, Liebe und Freiheitswunsch.

Helga Schubert schreibt in „Der heutige Tag“ über das Zusammenleben mit ihrem intensiv pflegebedürftigen Ehemann Derden und spürt den Gefühlswallungen, den Höhen und Tiefen nach, die sich durch diese Situation der einseitigen Abhängigkeit und Aufopferung unweigerlich ergeben. Das Buch steht im kommunikativen Zusammenhang mit André Gorz‘ „Brief an D.“ und Marilyn und Irvin D. Yaloms „Unzertrennlich: Über den Tod und das Leben“, aber auch Simone de Beauvoirs „Zeremonien des Abschieds“ und Martin Walsers „Das Traumbuch“. Der Tod und der Abschied vom Leben, die Begrenztheit der Zeit stehen im Zentrum. Die Zeit erhält ein ganz anderes Gewicht:

„Etwas wollen und fürchten.
Mitleid und Gesättigtsein vom Samariterleben.
Schlechtes Gewissen, wenn ich an mich denke.
Und Selbstbehauptung.
Gar nicht der Wunsch, aber doch das befreite Gefühl, schon beim Gedanken, dass eine Zeit kommen könnte, in der ich über mein Leben verfügen kann.“

„Helga Schubert: “Der heutige Tag”“ weiterlesen

Lukas Bärfuß: „Die Krume Brot“

Die Krume Brot

Schwester Leichtfuß ins offene Messer laufen lassen.

Lukas Bärfuß, der vielfach preisgekrönte, u.a. 2019 mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnete Schriftsteller, beschäftigt sich in seinem neuesten Roman „Die Krume Brot“ wortgewandt mit dem Prekariat. Im Vordergrund steht die Geschichte Adelinas, die sich in den 1960er und 1970er Jahren in Zürich mehr schlecht als recht durchschlägt und vom Regen in die Traufe kommt:

„Ist das gerecht, Adelina? Die Welt ist ein Brandofen, eine Mühle, ein Häcksler, sie hackt die Menschen klein, tötet sie auf tausendundeine Art und Weise, das Universum kennt keine Grenzen, wenn es darum geht, das Leben zu vernichten, durch Gift, durch Feuer, durch Aufprall, durch krankhafte Zellteilung, durch Entzündung, auch deines wird der Tod holen.“

„Lukas Bärfuß: „Die Krume Brot““ weiterlesen