Annie Ernaux: „Das Ereignis“

Annie Ernaux "Das Ereignis"

Ungeschönt und nackt der Sprache ausgeliefert: Ein Paradigmenwechsel der Literatur.

Ausführlicher, vielleicht begründeter: https://kommunikativeslesen.com/2022/…

Authentizität als literarische Form erfordert ein gewisses Maß an Masochismus. Alte Wunden werden ungeschönt hervorgeholt. Sie werden dargeboten und preisgegeben, um sie Tür und Tor für Urteile und Bewertungen und Diskussionen zu öffnen. In „Das Ereignis“ thematisiert Annie Ernaux schonungslos das Thema Schwangerschaftsabbruch zu einer Zeit in Frankreich, die 1960er Jahre, in der jede Form des erzwungenen Schwangerschaftsabbruches unter Strafe gestanden hat:

„Dass die Form, in der ich die Abtreibung erlebt habe – die Illegalität – der Vergangenheit angehört, ist für mich kein triftiger Grund, diese Erfahrung unter Verschluss zu halten – auch wenn ein gerechtes Gesetz die früheren Opfer paradoxerweise fast immer mundtot macht, im Namen von »es ist alles längst vorbei«, sodass das Geschehene weiter totgeschwiegen wird.“

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Leona Stahlmann: „Diese ganzen belanglosen Wunder“

Leona Stahlmann: „Diese ganzen belanglosen Wunder“

Ein literarisches Leuchten aus Sprachfreude und Zeittraurigkeit heraus.

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Dieser Roman strahlt eine Intensität gleich der eines einsamen Sternes aus. Das Licht reist durchs Nichts. Es erhellt das Dunkle, ohne es aber zu verdrängen. Statt dessen wird das Dunkle noch dunkler, aber das Helle auch heller. Leona Stahlmanns Roman „Diese ganzen belanglosen Wunder“ beschreibt einen zivilisatorischen Endzustand. Die Welt liegt in Trümmern. Die Isolation und Vereinsamung der Menschen nimmt zu. Sie suchen und versuchen über die Runden zu kommen, aber wissen schon lange nicht mehr wieso, fast als wäre die Utopie nur noch ein physischer Reflex:

„Ich habe keinerlei Anlass, an etwas zu glauben, das weiter entfernt als morgen. Ich bin niemandem etwas schuldig, schon gar kein Übermorgen, keine nächste Woche. Aber ich kann es einfach nicht lassen. Ich würde es niemals laut sagen. Ich glaube an die Zukunft in einem sinnlosen, hartnäckigen Reflex, wie ein Bein, wenn man auf den Knienerv schlägt, immer austreten wird: in die Luft, ins Leere.“

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Eckhart Nickel: „Spitzweg“

Eckhart Nickel: „Spitzweg“

Spätsommerliches Literaturglück, das zum Wiederlesen einlädt.

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Benjamin von Stuckrad-Barre ohne Süffisanz? Christian Kracht ohne Zynismus? Maxim Biller ohne erhobenen Zeigefinger? Oder Florian Illies ohne schlüpfrige Details? Kaum denkbar. Eckhart Nickel geht mit „Spitzweg“ einen eigenen Weg in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, und er geht ihn gemächlich, konsequent und ohne alle Brisanz. Inhaltlich lässt sich „Spitzweg“ als Coming-Of-Age-Roman einordnen, stünde der Inhalt im Vordergrund. Tatsächlich aber steht das Erzählen im Vordergrund, ein sehr langsames, freundliches, genaues und detailliertes Erzählen über die Suche nach Sinn und Sinnlichkeit in einer größer und unübersichtlicher werdenden Welt:

„Die Kunst besteht vielmehr im absoluten Gegenteil dieser aktionistischen Schaustellerei: Es geht allein darum, das Nichtstun aushalten und bewegungslos neben sich zu stehen, am Ende selbst zur reinen Beobachtung zu werden, der nichts entgeht, was um sie herum geschieht. Noch das kleinste Geräusch dringt an meine Ohren, ein Plätschern am Ufer oder das Säuseln des Winds in den Gräsern und Blättern. Das leichteste Flackern des Lichts, das sich im Wasser des Sees spiegelt, erreicht als Reiz meine Augen, aber ich nehme es lediglich wahr und lasse es mir nicht anmerken.“

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Kim de l’Horizon: „Blutbuch“

Alter Wein in neuen Flaschen … Zeugnis einer literarischen Entsublimierung.

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Transliterarische Texte bewegen sich in einem eigenartigen und eigenwilligen Spektrum. Es schillern zwischen allen Zeilen und Sätzen avancierteste akademische Theorien in Verbindung mit einer surrealistischen Écriture Automatique, die keine Grenzen akzeptiert und auch keine Grenzen akzeptieren kann, denn es geht schlicht ums Ganze, um das Leben, den Körper, das Universum und den ganzen anderen Rest. Kim de l’Horizons Roman gibt sich alle Mühe, dem Ganzen noch eine Krone aufzusetzen. Schließlich gilt es dem Elend, der Zerstörung, den sozioökonomischen Zwängen ein freies, ungebremstes Schreiben entgegenzusetzen, ein Schreiben, das ohne Scham Authentizität zu beanspruchen vermag:

„Liebe Oma, als ich Dina auf dem Bauch hatte und ihr die Haare streichelte, fiel mir wieder ein, wie sehr ich es hasste, von dir gehalten zu werden. Von deinen großen, rauen Arbeiterhänden. Deine Haut fühlte sich an wie eine einzige Wunde, die mit einer groben Kruste überzogen war, die nie verheilte. Deine Hand war immer irgendwo auf meinem Körper – auf meinem Arm, meinem Schenkel, meinem Bauch –, und sie bewegte sich. Immer, nervös, streichelnd.“

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Jan Faktor: „Trottel“

Jan Faktor: „Trottel“

Eine Welt in Phrasen, Scherben und Quisquilien … lieblos zusammengekleistert.

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Die Gattung der Schelmenromane erhält einen weiteren Exponenten. Solche Romane zeichnen sich durch eine Erzählposition aus, die sich selbst durch den Kakao zieht. Alles ist in solchen Texten erlaubt: Ironie, Schwadroniererei, Abschweifungen und Täuschungsmanöver, auch krasseste Widersprüche und inhaltliche Inkonsistenzen. Da die verbindliche Erzählposition von Anfang an aufgekündigt wird, lässt sich im Grunde auch seitens des Publikums keine berechtigte Kritik mehr üben. Der Autor hat doch schon bereitwillig zugegeben, dass er nichts tauge. Wer also zu einem Buch namens „Trottel“ greift, es kauft und zu lesen beginnt, riskiert selbiger selbst zu werden:

„Erzähle ich zu viel Überflüssiges – oder sogar den reinen, unsauber randomisierten Unsinn? Das könnte der eine oder andere Begappte, Begrabbelte oder Graubegraulte vielleicht meinen. Dabei bremse ich mich – bei diesem konkreten Lab-Project auf jeden Fall – relativ brav und schreibe nur einen Bruchteil dessen auf, was mir so durch den Kopf geht.“

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