Julia Jost: „Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht“

Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht

Subversives Schreiben gegen das ländliche Kärntner Idyll. Eine poetische Aufruhr aus der Sicht seines kindlichen Wildfangs.

Wer, was ich erst durch den Kauf des Hardcover-Exemplars von Julia Josts Roman erfuhr, Geleitworte von Elfriede Jelinek auf dem Umschlagtext erhält und dieser sogar expliziert am Ende ihres Buches dankt, muss zumindest irgendetwas Textliches gewagt haben. Julia Jost wagt indes viel. Sie beschreibt aus der Sicht einer Heranwachsenden, das Alter der 1982 geborenen Ich-Erzählerin schwankt zwischen sieben und dreizehn Jahren, das Leben und Aufwachsen in Kärnten unter, so ließe sich mit Ingeborg Bachmann zusammenfassen, Mördern und Irren:

Obwohl der vulgo Focknhocker keine drei Kilometer vom Gratschbacher Hof entfernt wohnt, er dieselben Bäume anschaut wie ich und Schwalben, derselbe Geruch in ihn eindringt, er vom gleichen Speck isst und die gleiche Milch trinkt, obwohl er, wie ich, erst nach und nach den zweibeinigen Gang und die Artikulation mit der Zunge gelernt hat, obwohl sein Dialekt dem meinen gleicht, kam er mir in jenem Augenblick unüberbrückbar fremd vor.

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Gabriel García Márquez: „Wir sehen uns im August“

Wir sehen uns im August
Wir sehen uns im August.

Die Reichen und Schönen unter sich. Eine Telenovela in Kurzform.

Gabriel García Márquez skizziert in dem wenig umfänglichen Roman „Wir sehen uns im August“ die Suche Ana Magdalena Bachs nach Romantik, Intensität und Sinnlichkeitserfüllung. Die Protagonistin fährt einmal pro Jahr auf eine Insel in die Karibik, wo ihre Mutter begraben liegt. Dorthin bringt sie ein Strauß Gladiolen, gedenkt ihrer Mutter, verbringt eine Nacht in einem Hotel und fährt zurück in ihr vermeintlich glückliches Leben mit Ehemann, Tochter und Sohn. Doch dann geschieht etwas Unvorhergesehenes:

Es hatte zwei Uhr geschlagen, als ein Donner das Haus bis ins Fundament erschütterte und der Wind den Riegel des Fensters aufdrückte. Schnell schloss sie es wieder, und im plötzlichen Mittagslicht eines weiteren Blitzes sah sie die aufgewühlte Lagune und, durch den Regen hindurch, den riesigen Mond am Horizont und die blauen Reiher atemlos im Sturm flattern. Er schlief.

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Wolf Haas: „Eigentum“

Eigentum
Eigentum von Wolf Haas.

Mit viel Empathie, dennoch der Trauer und dem Schock mit Flapsigkeit ausgewichen. Freundlich, doch etwas feige und zu kurz.

Wolf Haas, bekannt vor allem für seine Brenner-Krimis, zuletzt „Müll“, befeuert in „Eigentum“ das aufblühende autofiktionale Genre. Im harten, schnellen Präsenz schreibt er nicht über, sondern gegen den Tod und das Sterben, hier, von dem Tod der Mutter seines Ich-Erzählers, die er im Altenheim besucht und zu diesem Anlass ihr Leben Revue passieren lässt:

Aber ich hab keine Zeit. Ich will das hinschreiben, solange sie noch lebt, danach möchte ich mich nicht mehr damit beschäftigen. Das heißt, ich hab keine Zeit, ich muss es schnell hinschreiben, womöglich lebt sie nur noch ein paar Tage (tatsächlich nur noch zwei), dann möchte ich diese verdammten Geschichten auch endlich begraben, was geht es mich an, dass ein Mensch, den ich nicht gekannt habe, sein kleines Lechn immer wieder gegen ein größeres Lechn getauscht hat.

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Rhea Krčmářová: “Monstrosa”

Rhea Krčmářová: “Monstrosa”

Selbstfindungsoper im Institut für Essstörungen. Eine Opernsängerin haut auf den Putz und wirbelt das Leben der Mitinsassen herum. Eine wortgewandte Rhapsodie.

Rhea Krčmářová schreibt Bücher über Voluminositäten. In „Monstrosa“ lautet die Rahmenhandlung: eine Opernsängerin namens Isabella wird von ihrer weltbekannten Gesangslehrerin vor die Wahl gestellt, sich wegen Essstörungen in Behandlung zu begeben oder ihren Status als Schülerin und somit alle Chancen zu verlieren, sich noch einen Namen als Opernsängerin zu machen. Isabella beißt in den sauren Apfel, vermietet ihr Zimmer unter und weist sich selbst in das Klinikum Gertraudshöhe im Wienerwald ein:

Ich muss meine Spiegelung nicht sehen, angedeutet im Glas der Trenntüren zwischen Krankenstation und Stiegenhaus; in den Überresten des zersplitterten Spiegels im Therapieraum oder im kleinen Rund dessen, was einmal mein Schminkspiegel war. Das Monster bin ich.

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Iris Wolff: „Lichtungen“

Lichtungen

Eine Retrospektive der Verluste. Ein Leben, das wartet, auf sich warten lässt und keine Erlösung findet. Zu einem passiven Protagonisten gesellt sich eine destruktive Erzählweise.

Iris Wolffs Roman „Lichtungen“ dreht sich alles um Heimat und Identität einer deutsch-rumänischen Familie in der Nähe Siebenbürgens. Die Hauptfigur, Lev oder Leonhard, wächst in einer Familie aus Halbgeschwistern auf. Lis, seine Mutter, heiratete Levs Vater, als dieser nach dem Tod seiner Frau drei Kinder, zwei Söhne, eine Tochter durchzubringen versucht. Doch zwischen den Familienmitgliedern herrscht keine Harmonie. Vor allem Lev fühlt sich als außenstehender:

Lev hatte keine Großmutter mütterlicherseits. Keinen Großvater väterlicherseits. Er hatte keinen Vater. Und wer ebenso fehlte, war Ferry. Er war in all den Jahren kaum zu Besuch gekommen.

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Tijan Sila: „Radio Sarajevo“

Radio Sarajevo

Unverbindliches aus dem Nähkästchen-Plaudern über Krieg, Flucht und Traumaverarbeitung. Mehr eine Skizze, ein Brainstorming, aber kein Werk gegen das Vergessen.

Gegen das Vergessen schreiben, so schließt Sila sein eigenes Buch, das von sich nicht behauptet ein Roman zu sein und auch, in der Tat, nicht im entferntesten einer ist:

„In Bosnien wird die Generation meiner Eltern die »entwurzelte« oder die »ausgerissene« genannt. Meine Generation aber hat keinen Spitznamen, wir sind die Vergessenen. Ich schrieb dieses Buch auch, um dem Vergessen etwas entgegenzusetzen.“

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Tomer Dotan-Dreyfus: „Birobidschan“

Birobidschan

Wirr, überladen, sprachlich unterhalb der Schmerzgrenze trotz starken Anfangs und interessanten Settings.

Das zweite Buch der Shortlist des Bloggerpreises „Das Debüt“ lockt mit einem geheimnisvollen Cover, das einen Stahlarbeiter zeigt, der vor einer übergroßen Hebel- oder Pressvorrichtung steht. Selten hat ein Cover weniger mit einem Inhalt zu tun gehabt wie bei Tomer Dotan-Dreyfus‘ Debütroman „Birobidschan“. Dort geht es nicht um Stahlarbeit, um die Verfertigung einer Transsibirischen Eisenbahn, um die Härten und Zumutungen der sowjetischen Industriearbeit. Stattdessen dreht sich alles um Familie, Partnertausch und verschwundene Ehemänner:

Rachel sah ihren Vater [Gregory] nie wieder, aber er sah sie. Ab und zu war er da, im Hintergrund, zwischen Bäumen und Büschen, als würde er in diesem Zeitpunkt in Tunguska, im Wald, im ewigen Hintergrund feststecken. Sogar die Beerdigung von Jakov beobachtete er aus der Ferne. So gern hätte er hingehen und Josephin [Rachels Mutter] noch einmal umarmen wollen. Aber die Distanz … man gewöhnte sich nicht nur an sie, man wurde davon abhängig.

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Bernhard Schlink: „Das späte Leben“

Das späte Leben von Bernhard Schlink

Von der Belanglosigkeit des Unvermeidlichen … ein ziemlich schwacher Trost voller Fragezeichen.

Schlink wählt sich gern die großen Themen: Die Vergangenheitsaufarbeitung Nazi-Deutschlands in „Der Vorleser“, der Rechtsradikalismus und die völkischen-identitären Gemeinschaften in Ostdeutschland in „Die Enkelin“, nun der Krebstod in „Das späte Leben“:

Der Arzt schüttelte den Kopf. »Wenn die Wirbelsäule betroffen ist …« Er strich das zerknüllte Papier glatt. »Herr Brehm, wir haben vor Jahren einmal über den Tod gesprochen, erinnern Sie sich?«

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Benjamin Labatut: „Maniac“

Maniac

Krachend, fesselnd, explosiv … aber knallhart, mit Wucht am Gegenstand vorbei geschrieben.

Würde ich nochmal ein Buch von Benjamin Labatut lesen? Ja, aber hoffentlich geht es um Jugendbanden, um Boxkämpfe, um wütende Jünglinge, die sich die Hörner abstoßen und der Vergeblichkeit ihres Tuns innewerden. Ich wünsche mir, es spielt in Kolumbien, in den Banlieus von Paris, im Kreuzberg eines verwüsteten Berlins wie Tim Staffels „Terrordrom“, aber nicht in Harvard, am MIT, in Cambridge oder Oxford und reflektiert nicht wutentbrannt über Theoretische Physik, Kybernetik und künstliche Intelligenz, sondern wo der höchste und beste Kick zu finden ist und von welchem Hochhaus es sich mit einem Hängegleiter oder Deltasegler am besten zu springen lohnt, um einen heftigen und langen Ausblick auf die Stadt zu genießen. Doch leider passiert nachgerade das Gegenteil in „Maniac“

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George R.R. Martin: “Die Herren von Winterfell”

Die Herren von Winterfell

Unterhaltsamkeit: 4 Sterne. Pacing: 3 Sterne. Figurenensemble: 2 Sterne. Sprachvergnügen: 1 Stern. Ein holpriger Einstieg. Bis auf einige Stellen sehr fixiert auf Äußerlichkeiten.

G.R.R. Martins „Das Lied von Feuer und Eis“ springt in seiner Erzählform zwischen den Schauplätzen umher. Die Schnitte sind hart, und auch die Erzählzeit variiert stark. Weniger die Innerlichkeit der Figuren spielt eine Rolle, als deren dialogische Wechselwirkung und Kostümierung, so dass der Roman teilweise eher einem Drama oder Theaterstück oder Operatte entspricht. Die reflexive, sich weitende epische Möglichkeit des Romans wird nicht ausgespielt. Martin kommt schnell und hart zur Sache:

„Bei dieser verfluchten Hitze war die halbe Stadt wie im Fieber, und jetzt mit all diesen Besuchern … gestern Nacht gab es einen Tod durch Ertrinken, eine Massenschlägerei in einer Taverne, drei Messerstechereien, eine Vergewaltigung, zwei Brände, Räubereien ohne Ende und ein alkoholisiertes Pferderennen auf der Straße der Schwestern. In der Nacht davor wurde im Regenbogenteich der Großen Septe der Kopf einer Frau gefunden.“

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