Iris Wolff: „Lichtungen“

Lichtungen

Eine Retrospektive der Verluste. Ein Leben, das wartet, auf sich warten lässt und keine Erlösung findet. Zu einem passiven Protagonisten gesellt sich eine destruktive Erzählweise.

Iris Wolffs Roman „Lichtungen“ dreht sich alles um Heimat und Identität einer deutsch-rumänischen Familie in der Nähe Siebenbürgens. Die Hauptfigur, Lev oder Leonhard, wächst in einer Familie aus Halbgeschwistern auf. Lis, seine Mutter, heiratete Levs Vater, als dieser nach dem Tod seiner Frau drei Kinder, zwei Söhne, eine Tochter durchzubringen versucht. Doch zwischen den Familienmitgliedern herrscht keine Harmonie. Vor allem Lev fühlt sich als außenstehender:

Lev hatte keine Großmutter mütterlicherseits. Keinen Großvater väterlicherseits. Er hatte keinen Vater. Und wer ebenso fehlte, war Ferry. Er war in all den Jahren kaum zu Besuch gekommen.

Lichtungen“ erzählt Levs Leben rückwärts. Der Roman startet mit Kapitel neun, als Lev seine Freundin Kato in Zürich besucht, wo sie ein Leben als Straßenkünstlerin führt, sich von ihrem Partner Tom getrennt hat. Sie hat Lev eine Karte geschrieben, in der sie ihn fragt, wann er komme. Nach kurzem Zögern entschließt sich Lev seine Kindheits- und Jugendfreundin zu besuchen. Hiermit beginnt und endet das Buch. Was daraufhin folgt, ist eine Reise zurück zu den Anfängen, die erläutert, was Kato und Lev verbindet, woher sie stammen und welche Verluste sie erlitten haben. In neun Kapiteln erzählt insofern Wolff in „Lichtungen“, wie aus Levs Leben nach und nach wichtigen Menschen verschwinden, also emotional-aufgeladene Heideggersche Lichtungen entstehen.

In allem gab es diese Dunkelstellen, wo die Erfahrung aufhörte und die Erinnerung anfing. Etwas blieb, und etwas ging verloren, manches schon im Augenblick des Geschehens, und wie sehr man sich auch bemühte, es tauchte nie wieder auf. Erinnerungen waren über die Zeit verstreut wie Lichtungen. Man begegnete ihnen nur zufällig und wusste nie, was man darin fand. Die eindrücklichsten Momente, das, was sich nicht verlor, gehörte einem nie alleine. Die Angst gehörte einem alleine. Das Vergessen. Alles sonst, dachte Lev, bleibt nur durch andere gegenwärtig.

Lev, wie das Zitat zeigt, definiert sich nur durch das Außen, durch die Anderen, durch Zuspruch, Widerspruch, durch Anerkennung und Zurückweisung. Die narrative Reise in seine Vergangenheit bringt nur diese Passivität zutage. Lev lebt nicht für sich. Er lebt für andere, aber die anderen, als sei es sein Schicksal, verschwinden, entgleiten ihm. Er trägt schwer an diesen Verlusten, befreit sich nicht von dieser Schwere, und so nimmt es nicht wunder, dass er sich zu Kato flieht, sobald diese nach ihm wie nach einem Schoßhündchen pfeift. Auf sich allein gestellt, weiß er nun einmal nicht, was er mit sich anfangen soll:

Sie schüttete den Inhalt eines Bechers in Levs Wanne, und der Geruch von Lavendel, Rosmarin und etwas anderem stieg auf. Lev sank auf den Grund. So musste sich ein Tropfen fühlen, der sich in der Iza auflöste.

Zu verschwinden, in Harmonie aufgehen, sich auflösen, darin besteht das geheime Ziel von Lev. Ausgestoßen aus einer Heimat, die in sich zerstritten wie die Familie ist, weiß er keinen Weg zu sich heraus in die Welt. Er kehrt immer wieder zurück, und so am Ende auch mit Kato:

»Wir reisen gemeinsam zurück?«, vergewisserte er sich, als sie bei dem Land Rover am Parkdeck angekommen waren. So lange hatte er gebraucht, um seine Sprache wiederzufinden. Er wollte nicht zu früh glücklich sein. Er wollte sie nicht noch einmal verlieren. »Ja«, sagte Kato. Einfach nur: Ja. Das reichte ihm für den Moment.

In disharmonischer Uneinigkeit mit sich und der Welt zerbricht der Roman von Iris Wolff an einer zu schwachen Hauptfigur, die in schiefen Bildern eine Welt in den Scherben ihres Selbstbewusstseins sucht. Die Allegorien verfehlten ihr Ziel. Die Metaphern schießen ins Leere. Der bemühte Stil radebricht von einer Heimat, die keine sein will. Wolff schreibt stilsicherer als die meisten, doch über Stichworte, Skizzen, Reminiszenzen geht „Lichtungen“ trotz vermeintlich hintergründiger barocker Ornamentalik nicht hinaus. Schade.

Inhalt: 1/5 Sterne (stereotypes Coming-of-Age)
Form: 3/5 Sterne  (zielsicherer, aber gewollter Stil)
Komposition: 1/5 Sterne (unverbindliches Rückwärts-Erzählen)
Leseerlebnis: 1/5 Sterne (leeres, trauriges Evaneszieren)

Kommentar verfassen