Louise Glück: „Winterrezepte aus dem Kollektiv“

Rezension. Louise Glück: "Winterrezepte aus dem Kollektiv"

Vom Zauber der Kommunikation: Weder schreien noch schweigen, noch flüstern.

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Louise Glücks „Winterrezepte aus dem Kollektiv handelt von Genesung, Rekonvaleszenz, Abschied und Verlangsamung. Als Stimmungsbild ergibt sich das Vergehen einer sanften Zeit inmitten eines asiatischen Steingartens. Die Sprache ist einfach. Die Worte schnörkellos. Das Druckbild übersichtlich, mehr Weiß, mehr Leerraum, entlastend, so dass die einzelnen Strophen wie ein Flüstern, Wispern im Wind wirken. Das lyrische Ich befindet sich in einer Art Wellness-Tempel mit Concierge, einer Institution, in der es Lehrer fürs Malen, fürs Nachempfinden, für Kalligraphie und Tipps für eine optimale Lebensführung gibt. Gespräche mit einem Abgereisten, mit der Schwester, über die Mutter binden das lyrische Ich zurück an eine Welt, die es so nicht mehr für es gibt.

„Eine Krankheit befiel mich,
deren Ursache man nie feststellte,
obwohl es zunehmend schwierig wurde,
Normalität vorzutäuschen,
Gesundheit oder Lebensfreude –
Mit der Zeit wollte ich nur noch mit denen zu tun haben, die wie ich waren“

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Jessica Lind: “Mama”

Jessica Lind: "Mama"

Nichts für Zartbesaitete. Schockierend gelungene Darstellung eines Traumas.

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Eine Hütte, verlassen im Wald, ohne Kontakt zur Außenwelt, ein Pärchen auf den Spuren der Vergangenheit – aus diesem Stoff werden für gewöhnlich Horror-Romane gezimmert, wie bspw. Stephen Kings „Das Spiel“, das nichts für zartbesaitete Gemüter ist. Jessica Linds Roman „Mama“ ist es auch nicht. Nur aus andersgearteten Gründen. Verbreitet Stephen King in seinen erbarmungslosen Schockern mit etwas billigen, nichtsdestotrotz wirksamen Mitteln Horror, gelingt Lind dies ohne jedwede Effekthascherei. Lind schreitet vielmehr den schmalen Grat der eigenen Zivilisiertheit ab, gerät aber hier und da aus dem Gleichgewicht und lässt einen teilweise übers Unheimliche und Bodenlose taumeln, mit rudernden, ausgebreiteten Armen einer sinnlos gewordenen Sinnsuche. Lesend bleibt man in ständiger Angst um Josef und Amira und ihre Tochter Luise befangen, um jene Familie, die sich in der besagten Hütte von ihrem Stadtleben zu erholen sucht.

„Josef lässt sich darauf ein, abzuwarten, solange Amira im Bett bleibt und sich ausruht, während er den Koffer und die Taschen ausräumt. Die Fahrt hat sie mehr angestrengt, als sie zugeben wollte. Ihr war schwindlig, sie hat kurz das Bewusstsein verloren, der Rest war eine Halluzination, ein Traum. Sie hat niemanden gesehen, nicht einmal die Tür hat sie geöffnet. Seit sie schwanger [mit Luise] ist, sind ihre Träume lebendiger. Sie träumt von der Geburt. Sie träumt vom Wald.“

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Fernanda Melchor: „Paradais“

Fernanda Melchor: „Paradais“

Von jungen Wilden und ihrer Sprachlosigkeit … intensiver Blick in den Abgrund

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Bücher, die im Grunde aus Rhythmus, Sprachfreude und einem bandwurmartigen Formexperiment bestehen, lassen sich nur mit Mühe herkömmlichen Kategorien zuordnen. „Paradais“ von Fernanda Melchor gehört zu diesen Texten und lässt sich, beinahe, in einem Atemzug mit einer Lesezeit von etwa 90 Minuten durchlesen, in etwa einer Spielfilmlänge. Ist es also ein Film als Buch? Ein mexikanischer Coming-of-Age-Roman, ein Splatter-Machwerk, Thriller, eine Quentin Tarantino-Variante, bestehend aus Schimpfwörtern, Obszönitäten, ordinären Tiraden? Oder einfach der Versuch, den Dschungel spätpubertärer Jünglingsallüren mal ungeschönt und unverharmlost, nicht wie in Herman Hesses „Demian“, in Worte zu gießen, der Gefahr der rasenden Ungeduld nackt ins furchterregende Auge zu sehen, um eine Rettung zu erahnen, wie der Ich-Erzähler in Edgar Allan Poes „Hinab in den Malstrom“?

„An einen dicken Ast des Amatebaums gelehnt, schloss er [Polo] die Augen, atmete den matten Duft der Lilien ein, und ohne es zu wollen, doch auch ohne es verhindern zu können, machte er denselben Fehler wie immer, wenn es ihm gut ging, genau denselben: Er wünschte sich, dieser Moment des einsamen Friedens ginge niemals vorüber. Doch, klar, gleich darauf tauchte unweigerlich der verfluchte Dicke [Franco Andrade] am Steg auf, vom Herabsteigen der Holzstufen schnaufend wie ein Nashorn, mit seinem dämlichen Grinsen aus der Zahnpastawerbung und dem gleichen Gelaber wie immer, im Ernst, demselben beschissenen Gefasel, wie er die Señora [Marián Maroños] von vorne und von hinten und von wer weiß wo […]“

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Michel Houellebecq: “Vernichten”

Michel Houellebecq: "Vernichten"

Kraftlos improvisiert … gähnend ungelenkes, schlecht komponiertes Alterswerk

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Über Michel Houellebecq müssen nicht viele Worte verloren werden. Zu bekannt, zu verehrt, zu kritisiert, über den Klee gelobt, beinahe gefürchtet und doch immer wieder gerne zitiert, dass man schlicht vergisst, dass es sich um einen Schriftsteller handelt, der sich lediglich in die französische Literaturtraditionen einzuordnen versucht. Es ist ihm nie bislang nicht überzeugend gelungen. Die Beobachtungen blieben stets zu schlicht, der Stil zu journalistisch, die Sprache zu einfach, die Form beliebig. Houellebecq musste deshalb in der Vergangenheit stets schockieren, um auf sich aufmerksam zu machen. In „Vernichten“ schockiert er nicht mehr. Er lamentiert zusammen mit seinem Protagonisten Paul.

„Dabei war er [Paul] in diesen Büros nie sehr glücklich gewesen, zumindest nicht vor seiner Begegnung mit Bruno, aber es ist nicht die Tatsache, dass man an einem Ort glücklich war, der die Aussicht, ihn zu verlassen, schmerzhaft werden lässt, sondern allein die Tatsache, ihn zu verlassen, einen Teil seines Lebens hinter sich zu lassen, mag er auch noch so bedrückend oder gar unangenehm gewesen sein, zu sehen, wie er sich im Nichts auflöst; mit anderen Worten, es ist die Tatsache, dass man älter wird.“

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Stefanie vor Schulte – Junge mit schwarzem Hahn

Stefanie vor Schulte - Junge mit schwarzem Hahn

Der Grausamkeit trotzend – ein Märchen von schauriger Schönheit.

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Selten tauchen Romane in der Gegenwart auf, die vom ersten Wort an, Eigensinn und Eigengesetzlichkeit beanspruchen. Sie wehren sich des Vergleichs und sprengen eine eigenartige Form von Zeitlichkeit. Stefanie vor Schultes Roman „Junge mit schwarzem Hahn“ gehört zu diesen Werken. Äußerlich eine Art Märchen, inhaltlich eine Fabel auf Widerständigkeit, rhythmisch eine Parabel aufs Erzählen, und doch sonderbar romantisch in seiner poetischen Vermittlung des Hässlichen mit dem Schönen.

„Manchmal hockt der Hahn auf der Kurbel des Schleifsteins, der mit den Jahren ins Erdreich gesunken und jetzt mit Flechten überwuchert, vom Frost unverrückbar festgebacken ist. An dem hat der Vater sein Beil erst geschärft und alle bis auf den Jungen erschlagen. Da hat es vielleicht angefangen.“

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Kim Young-Ha: “Aufzeichnungen eines Serienmörders”

Kim Young-Ha: "Aufzeichnungen eines Serienmörders"

Ein Krimi der inhaltlich besonderen, sprachlich gesehen leider der etwas zu einfachen Sorte.

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Dass Literaturkategorien höchstens zur sehr groben Orientierung dienen, beweist der Roman „Aufzeichnungen eines Serienmörders“ von Kim Young-ha. Dieser rangiert unter Krimis. Wer nun meint, er bekomme den nächsten Simon Beckett oder Sebastian Fitzek geboten, oder einen Brunetti-Roman von Donna Leon, der täuscht sich. Er bekommt etwas geboten, und zwar eine polithistorische Parabel auf Gewalt, Vergessen, Schuld und Sühne in einem heimgesuchten Land, das genug Tote für viele weitere Generationen gesehen hat: Südkorea. Es handelt sich also um einen Fall, der sich nicht so leicht lösen lässt. Der Roman handelt von einem an Alzheimer erkrankten Serienmörder, Byongsu Kim.

»Glauben Sie [Byongsu Kim], dass Sie zu Unrecht beschuldigt werden?« Diese Frage belustigt mich. Der Mann [Kommissar Jutae Park] unterschätzt mich. Das missfällt mir am meisten. Hätte man mich früher gefasst, wäre ich nicht so leicht davongekommen. Unter Chunghee Park hätte man mich sofort gehängt oder auf den elektrischen Stuhl gesetzt.“

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