Bodo Kirchhoff: „Seit er sein Leben mit einem Tier teilt“

Seit er sein Leben mit einem Tier teilt

Dem Tode nochmal von der Schippe gehüpft, oder wie jemand nach dem letzten Strohhalm greift und nicht daneben. Schaurig-kitschig verstörendes Lehrstück.

Selbstzerfleischende männliche Protagonisten kennt die Gegenwartsliteratur zuhauf: Michel Houellebeq in „Vernichten“; Heinz Strunk in „Ein Sommer in Niendorf“; Emmanuel Carrère in „Yoga“. Bodo Kirchhoffs „Seit er sein Leben mit einem Tier teilt“ schlägt in dieselbe Kerbe:

„[…] um sein Bereuen für neue Fragen zu nutzen, führt dazu, dass er Zeit braucht für eine Antwort, erst seinen Atem regulieren muss, um nicht zu schnaufen nach jedem Wort. Ich glaube, in meiner Nähe fühlt man die Möglichkeit des eigenen Scheiterns, sagt er nach einer Weile. Und zieht sich entweder bald zurück oder rennt dagegen an.“

Rahmenhandlung: Louis Arthur Schongauer lebt nach seiner Karriere als Nebendarsteller, zumeist als Nazi in Hollywoodfilmen, in einem beschaulichen Haus in Italien, verwitwet, nachdem seine Frau Magda, berühmte Fotografin, beim Schwimmen im Meer ums Leben gekommen ist. Eines Tages erreicht ihn die Anfrage von Almut, einer Journalistin, die über ihn ein Porträt verfassen will. Wie es der Zufall so möchte, verreckt auf seinem Grundstück am Tag von Almuts Besuch das Wohnmobil einer jungen Reisebloggerin, deren Mutter Lilly, eine Talkshow-Masterin, bald auch noch dazustößt. Schongauers junge Hündin Ascha weiß plötzlich kaum noch ein und aus und hängt sich an die Reisebloggerin, während Schongauer sich nach und nach seinen romantischen Gefühlen zu Almut hingibt:

Alles ist vorläufig, man glaubt nur lange, es sei anders. Auch der Stent, den er voriges Jahr bekam, ist nicht der Weisheit letzter Schluss, nur ein Plastikröhrchen, das für eine Weile das Schlimmste verhindert. Almut könnte seine Tochter sein, aber er stellt sich vor, dass auch er sie verrückt macht, womit, das bleibt fraglich. Was weiß er schon über Frauen und die Liebe, was weiß er überhaupt  – der Pizzicollo ist genau tausendfünfhundert Meter hoch. Der See ist dreihundertfünfundvierzig Meter tief. Er wird morgen fünfundsiebzig.

Schongauers Herz schlägt schwer. Die Schritte schmerzen und seine Einsamkeit auch. Wortkarg wie sein Nebendarsteller-Dasein gibt er Almut kaum etwas an die Hand. Er antwortet nicht. Er schafft es nicht, sich zu öffnen. Er bleibt, sexuell geladen, kommunikativ gehemmt und rudert um das eigene Begehren, bis es nur noch allzu offensichtlich wird. Sein Glück: Er sieht gut aus. Und noch mehr Glück: Almuts Ehe befindet sich in einer Krise. Ihr Ehemann schläft mit einer jüngeren, warum also, hofft Schongauer, sie nicht auch mit einem älteren?

Kirchhoffs Sprache „Seit er sein Leben mit einem Tier teilt“ bleibt durchweg zäh, widerborstig. Die ersten fünfzehn Kapiteln ziehen sich. Erst Lilly, die Talkshow-Masterin, bringt wirklich Schwung in die Abendgesellschaft. Sie trinkt zu viel, redet sich um Kopf und Kragen, aber lebt intensiv, offensiv, voller Sehnsucht und Selbstreflexion. Das beständige Schnaufen, Keuchen Schongauers deutet auf den drohenden Herzinfarkt hin. Doch je länger der Text gereicht, sich Schongauers Leben erschöpft, desto mehr kulminiert das Buch in eine kaum fassliche Intensität, die überraschenderweise selbst atemlos stimmt.

Wir sind allein, sagt sie, und etwas beruhigt sich in ihm, er könnte kaum angeben, was, nur dass sein Grauen vor dem Winter nachlässt, den er noch einmal erleben könnte, aber eigentlich vor dem, der er nachts im Winter ist, wenn er nach einem Körper greift, den es nicht gibt, und stattdessen sein Tier umarmt.

In „Seit er sein Leben mit einem Tier teilt“ geht es schlichtweg ums große Ganze, wo keine Lügen mehr helfen, kein schönes Nebendarsteller-Gesicht darüber hinwegtäuscht, dass da eine Leere und ein Nichts prangen, wo einst Leben gewesen ist. Schmerzhaft, brutal, radikal graben sich die Gedanken Schongauers in die Nichtwirklichkeit und den nahenden Tod, der ihn zu unvorhergesehenen Maßnahmen zwingt. In der Komposition, in der Dramaturgie schwer zu ertragen, nichtsdestotrotz überzeugend, ein Mahnmal, eine Warnung, ein Wink mit dem Zaunpfahl, Leben mit Leben, nicht mit Tod und Entschuldigungen zu begegnen. Heftig.

Inhalt: 2/5 Sterne (alter Mann sucht junge Frau)
Form: 3/5 Sterne  (stilistisch gehobene Standardsprache)
Komposition: 5/5 Sterne (Crescendo der Todesangst)
Leseerlebnis: 5/5 Sterne (nachhallendes Angst nebst lebensbejahendem Unbehagen)

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