Maria Kjos Fonn: “Heroin Chic”

Heroin Chic

Angstlos den Abgrund vor Augen

Ausführlicher, vielleicht begründeter: https://kommunikativeslesen.com/2023/…

Maria Kjos Fonns neuester Roman „Heroin Chic“ handelt nüchtern von einer Süchtigen, Elise, die sich zur Sucht bekennt. Sie nimmt kein Blatt vor den Mund. Sie weiß, worauf sie zustrebt. Sie weiß, was mit ihr geschieht und dennoch bejaht sie es. Anders als andere Romane über die Drogensucht, wie „Trainspotting“ von Irvine Welsh oder „Candy“ von Luke Davies oder „Wir Kinder vom Bahnhofzoo“ gibt es kein sozioökonomisches, psychologisches Drama. Der Roman will keine Gesellschaftskritik sein:

„In der Theorie ist es absolut möglich, einen Schuss zu setzen und zur Arbeit zu gehen, zum Liebsten nach Hause zu gehen, einen Schuss zu setzen und schlafen zu gehen. Man braucht es nicht größer zu machen, als es ist. Eine medizinierte Krankheit. Vielleicht war das Problem nicht, dass ich es brauchte, sondern dass alle um mich he­rum brauchten, dass ich es nicht brauchte.“

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Virginie Despentes: „Liebes Arschloch“

Liebes Arschloch

Flüssig, gefällig – ohne jeden literarischen Anspruch. Politik als Roman verpackt.

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Es gibt Stimmen, die Virginie Despentes ‚Balzac des 21. Jahrhunderts‘ nennen. Andere sehen in ihr die kongeniale Wiedergängerin von Michel Houellebecq, die andere Seite der Medaille der ausgeweiteten Kampfzonen. Ordinär, brutal, durchdringend schlug das Erstlingswerk „Baise-moi – Fick mich“ ein, das 1994 erschien. „Liebes Arschloch“ ist ihr neuester Roman. Es ist ein Briefroman:

„Wenn ich also sage, »ich werde dir die Augen auskratzen«, ist das keine Redensart, sondern eine Drohung – ich werde in meiner Schutztruppe immer einen Boxer, einen Hells Angel oder einen Auftragskiller finden, der deine Adresse ausfindig macht und dir an dem Tag, wo du es am wenigsten erwartest, die Augen aus dem Kopf bläst und sie zum Frühstück verspeist.“

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Annie Ernaux: „Der junge Mann“

Der junge Mann

Nostalgisches Erinnerungsmosaik mit beinahe poetischen Zügen.

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Annie Ernaux’ Text „Der junge Mann“ lässt sich in einem Zug problemlos durchlesen und kann der Gattung Novelle zugeordnet werden, denn die Kürze und die erzählte Begebenheit deuten auf ein unerhörtes Ereignis an. Ob sich darin tatsächlich ein Normenbruch verbirgt, um den Begriff Novelle nach Goethes Begriff zu begründen, lässt sich jedoch kaum sagen, denn die erzählte Begebenheit handelt lediglich um die Beziehung einer älteren Frau zu einem jüngeren Mann:

„Mein Körper hatte kein Alter mehr. Erst der zutiefst missbilligende Blick der Gäste am Nebentisch im Restaurant rief es mir wieder in Erinnerung. Ein Blick, der mich gerade nicht mit Scham erfüllte, sondern mich darin bestärkte, meine Beziehung zu einem Mann, der »mein Sohn hätte sein können«, nicht zu verstecken, wenn jeder Mittfünfzigjährige eine junge Frau an seiner Seite haben konnte, die offensichtlich nicht seine Tochter war, ohne Missbilligung zu erregen.“

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Claudia Schumacher: „Liebe ist gewaltig“

Liebe ist gewaltig

Literarisch widersprüchliche Reise durch ein zerstörtes Ich.

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Reproduziert sich Gewalt durch Mimesis, durch Enttäuschung, durch Unvermögen? Diese Frage stellt sich Claudia Schumacher in ihrem Debüt „Liebe ist gewaltig“, das weniger von Liebe als von Aggression handelt. Der Titel mag daher etwas irreführend sein. „Liebe“ in ihrer klassisch vorgestellten Form wie in Benedict Wells „Hard Lands“ oder „Vom Ende der Einsamkeit“ oder Irvin D. Yaloms und Marilyn Yaloms „Unzertrennlich“ taucht in Schumachers Roman nicht auf:

„Ich wünschte, ich hätte deine positive Ader, wie Anikó es nennt. Deinen Selbstglauben, dein beschissenes Alles-ist-möglich. Aber ich bin Jules, das schwarze Loch, das sich selbst frisst. Ich wünschte, ich wäre jemand, den du lieben kannst. Ein Dichter, auf die stehst du doch. Wäre ich ein Dichter, dann wäre diese Misere in der Pfütze nicht nur ein Tiefpunkt, nein, sie wäre auch ein Grund für ein neues Gedicht, und zwar ein Gedicht für dich. Aber ich hasse Gedichte.“

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Annika Büsing: „Nordstadt“

Nordstadt

Literarisch antizipierter Ausbruchsversuch

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Annika Büsings Debütroman zeichnet sich vor allem durch seine Unumwundenheit aus. Die Ich-Erzählerin Nene nimmt kein Blatt vor dem Mund und plaudert, wie ihr der Schnabel gewachsen ist. Sie springt zwischen den Erinnerungen und Themen umher und berichtet von ihren Erfahrungen mit Boris, in den sie sich verliebt und der an einer verkrüppelten Fuß leidet. Sie stört sich aber weniger an seinen Fuß als ein wenig an seinen Zähnen:

„[Boris] hatte keine guten Zähne. Also gut waren sie schon, aber schief, und schiefe Zähne, die brandmarken einen Menschen irgendwie, finde ich. Aber vielleicht finde ich das nur, weil ich mit Zac Efron und Florian David Fitz aufgewachsen bin. Deren Zähne sind einfach perfekt. Und wenn ihre Leben noch so scheiße sind, einsam und erbärmlich, ihre Zähne rocken. Boris fand das oberflächlich.“

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Robert Musil: „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“

Die Verwirrungen des Zöglings Törleß

Ein Anti-Entwicklungsroman: Das Chthonische schlägt zurück.

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Neben den vielen aktuellen Coming-Of-Age-Romanen lohnt sich hier und da ein Blick zurück. Als gegenwärtige wären da u.a. zu nennen: Ariane Kochs „Die Aufdrängung“, Benedict Wells „Hard Land“, Claudia Schumachers „Liebe ist gewaltig“, Eckhart Nickels „Spitzweg“ oder Stephen Kings „Später“. All diese konzentrieren sich sehr auf die emotionale Berg- und Talfahrt im Erwachsenenleben, weniger aber auf das sogenannte Intellektuelle oder Geistige. Anders hier, in Robert Musils „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“:

„Diesen dunklen, geheimnisvollen Weg, den [Törleß] gegangen. Wenn sie ihn fragen würden: warum hast du Basini misshandelt? – so könnte er ihnen doch nicht antworten: weil mich dabei ein Vorgang in meinem Gehirn interessierte, ein Etwas, von dem ich heute trotz allem noch wenig weiß und vor dem alles, was ich darüber denke, mir belanglos erscheint. Dieser kleine Schritt, der ihn noch von dem Endpunkte des geistigen Prozesses trennte, den er durchzumachen hatte, schreckte ihn wie ein ungeheurer Abgrund.“

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