Annie Ernaux: „Der junge Mann“

Der junge Mann

Nostalgisches Erinnerungsmosaik mit beinahe poetischen Zügen.

Ausführlicher, vielleicht begründeter: https://kommunikativeslesen.com/2023/…

Annie Ernaux’ Text „Der junge Mann“ lässt sich in einem Zug problemlos durchlesen und kann der Gattung Novelle zugeordnet werden, denn die Kürze und die erzählte Begebenheit deuten auf ein unerhörtes Ereignis an. Ob sich darin tatsächlich ein Normenbruch verbirgt, um den Begriff Novelle nach Goethes Begriff zu begründen, lässt sich jedoch kaum sagen, denn die erzählte Begebenheit handelt lediglich um die Beziehung einer älteren Frau zu einem jüngeren Mann:

„Mein Körper hatte kein Alter mehr. Erst der zutiefst missbilligende Blick der Gäste am Nebentisch im Restaurant rief es mir wieder in Erinnerung. Ein Blick, der mich gerade nicht mit Scham erfüllte, sondern mich darin bestärkte, meine Beziehung zu einem Mann, der »mein Sohn hätte sein können«, nicht zu verstecken, wenn jeder Mittfünfzigjährige eine junge Frau an seiner Seite haben konnte, die offensichtlich nicht seine Tochter war, ohne Missbilligung zu erregen.“

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Annie Ernaux: „Das andere Mädchen“

Annie Ernaux: „Das andere Mädchen“

Vom Leben mit Gespenstern und einer Sprache, die Trauer in Trost und Zuversicht wandelt.

Ausführlicher, vielleicht begründeter: https://kommunikativeslesen.com/2022/…

Gespenster existieren auf viele verschiedene Weisen. Zumeist existieren sie in Form einer Erzählung, bspw. als Gruselgeschichten, die am Lagerfeuer erzählt werden, während die abgeschatteten Feuerzungen um einen herum tanzen. Annie Ernaux schreibt ihre eigene Gespenstergeschichte. „Das andere Mädchen“ ist ein langer Brief zu einem sehr kurzen Abschied an eine Schwester, die vor der Geburt der Ich-Erzählerin gestorben ist. Sie kennt das Mädchen, das einst ihre Schwester gewesen ist, nur von wenigen, sehr verblichenen Fotos:

„In der Ferne ein großes Gebäude, auf dem »La Méditerranée« steht, ein paar konturlose Gestalten bewegen sich darauf zu. Die Festtagskleidung der drei [Vater, Mutter, Kind] steht im Kontrast zu der leicht trostlosen Umgebung, einem industriell geprägten Stadtviertel. Das Foto wurde 1937 in Le Havre aufgenommen. Du bist fünf Jahre alt. Du hast noch ein Jahr zu leben.“

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Annie Ernaux: „Das Ereignis“

Annie Ernaux "Das Ereignis"

Ungeschönt und nackt der Sprache ausgeliefert: Ein Paradigmenwechsel der Literatur.

Ausführlicher, vielleicht begründeter: https://kommunikativeslesen.com/2022/…

Authentizität als literarische Form erfordert ein gewisses Maß an Masochismus. Alte Wunden werden ungeschönt hervorgeholt. Sie werden dargeboten und preisgegeben, um sie Tür und Tor für Urteile und Bewertungen und Diskussionen zu öffnen. In „Das Ereignis“ thematisiert Annie Ernaux schonungslos das Thema Schwangerschaftsabbruch zu einer Zeit in Frankreich, die 1960er Jahre, in der jede Form des erzwungenen Schwangerschaftsabbruches unter Strafe gestanden hat:

„Dass die Form, in der ich die Abtreibung erlebt habe – die Illegalität – der Vergangenheit angehört, ist für mich kein triftiger Grund, diese Erfahrung unter Verschluss zu halten – auch wenn ein gerechtes Gesetz die früheren Opfer paradoxerweise fast immer mundtot macht, im Namen von »es ist alles längst vorbei«, sodass das Geschehene weiter totgeschwiegen wird.“

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