Virginie Despentes: „Liebes Arschloch“

Liebes Arschloch

Flüssig, gefällig – ohne jeden literarischen Anspruch. Politik als Roman verpackt.

Ausführlicher, vielleicht begründeter: https://kommunikativeslesen.com/2023/…

Es gibt Stimmen, die Virginie Despentes ‚Balzac des 21. Jahrhunderts‘ nennen. Andere sehen in ihr die kongeniale Wiedergängerin von Michel Houellebecq, die andere Seite der Medaille der ausgeweiteten Kampfzonen. Ordinär, brutal, durchdringend schlug das Erstlingswerk „Baise-moi – Fick mich“ ein, das 1994 erschien. „Liebes Arschloch“ ist ihr neuester Roman. Es ist ein Briefroman:

„Wenn ich also sage, »ich werde dir die Augen auskratzen«, ist das keine Redensart, sondern eine Drohung – ich werde in meiner Schutztruppe immer einen Boxer, einen Hells Angel oder einen Auftragskiller finden, der deine Adresse ausfindig macht und dir an dem Tag, wo du es am wenigsten erwartest, die Augen aus dem Kopf bläst und sie zum Frühstück verspeist.“

Rebecca Latté, eine gealterte Schauspielerin, droht hier Oscar Jayack, einem in der Midlife-Krise steckenden Erfolgsschriftstellers. Als Schlüsselroman verstanden, kommunizieren hier Catherine Deneuve und Michel Houellebecq miteinander. Sie verstehen sich zu Anfang nicht sehr gut. Oscar greift Rebecca an. Rebecca greift zurück an. Über die Strecke des Romans entwickelt sich jedoch eine Freundschaft, die auch explizit von beiden eingestanden wird:

„Keine geöffneten Bars mehr, keine Toiletten, vor denen man anstehen muss, keine Künstlergarderoben, kein Warten, keine Ängste zu besiegen, keine Proben, keine schnellen F*cks. Das alles haben wir gemeinsam erlebt, du und ich. Das Leben hat durchaus Sinn für Humor. Wenn ich an den Anfang unseres Briefwechsels denke, sprach wenig dafür, dass du mein Leben verändern würdest. Und dass du deines veränderst.“

Als Themen werden gestreift die Corona-Pandemie, Social-Media-Shitstorms, TikTok-Videos, Metoo-Diskussionen, Weinberg, die Film- und Kulturbranche und vor allem und jedem Drogen. Das Hauptthema beider Briefschreibenden bleibt das Sich-Wegballern und beide begreifen über die Dauer des Briefwechsels, dass sie damit aufhören müssen. Rebecca, um ihre Karriere als Schauspielerin zu retten, Oscar, um die Beziehung mit seiner Tochter nicht zu verlieren. Diesbezüglich ergehen sich die beiden über jedwede mögliche Form der Drogeneinnahme und -wirkung. Die sozialen Umstände bilden nur den Rahmen für den Rausch:

„Sich wegballern ist ein Extremsport. Man muss wirklich den Wunsch haben, seine sämtlichen Identitäten in die Luft zu jagen. Geschlecht, soziale Schicht, Religion, Sippe. Du möchtest im Gegenteil das bisschen Ansehen bewahren, das du dir erworben hast.“

Stilistisch jedenfalls, wie die Zitate belegen, ereignet in Despentes‘ Roman nichts. Formalästhetisch gibt es nur das überraschende Merkmale, gerne auf Kommata bei Aufzählungen zu verzichten: „Facebook Twitter Google Amazon Microsoft Apple“ als Beispiel. Die Sprache unterscheidet sich nicht vom gesprochenen Wort. Der Textkorpus könnte eine Transkription eines langen Gesprächs unter Freunden sein. Kompositorisch ereignet sich auch nicht. Am Anfang befeindet, am Ende befreundet, aber kein Friede-Freude-Eierkuchen.

„Am Abend habe ich The Crown gesehen. Die ganze Nacht. So viele Folgen, bis es wieder hell wurde, und ich habe geweint. Ich habe geweint bei dem Gedanken, dass ich nie mehr die Prinzessinnen spielen werde. Ich war todtraurig, aber ich hatte nicht mehr den Reflex, die Nummer eines Dealers rauszusuchen. Es ist wie mit einem abgehängten Waggon. Der Antrieb, sich wegzuballern, ist außer Betrieb. Und ich bleibe zurück mit diesem unangenehmen Gefühl, aber ich habe nichts genommen.“

Wer also anderen beim Drogennehmen gerne zuhört, sie belauscht, wer gerne schmutzige Wäsche wäscht, ohne sich selbst die Hände schmutzig zu machen, der kommt voll auf seine Kosten. „Liebes Arschloch“ Literatur und Roman zu nennen, verballhornt jedoch diese Begriffe und kommt dem Versuch nahe, Whatsapp als zeitgenössische Enzyklopädie zu bezeichnen. Es gibt schlicht nichts, was formalästhetisch Despentes Stil von der Umgangssprache unterscheidet. Wer sich daran nicht stört, wird seine Freude haben. Flüssig und gefällig geschrieben ist der Text nämlich.

8 Gedanken zu „Virginie Despentes: „Liebes Arschloch““

  1. 1. Wieso wird es als Briefroman bezeichnet, obgleich sie sich E-Mails {Nachrichten per Whatsapp} schreiben?

    2. Wer hat diese Genre – Literarische Einbettungsversuche – erfunden? Wozu dienen diese? Oder besser: welcher Nutzen & Mehrwert wird hierdurch für Lesende und Literaturinteressierte erzeugt?

    3. Wieso wird es literaturhistorisch gesehen? Und wodurch erscheint “Liebes Arschloch” als konsequente Weiterentwicklungen des bürgerlichen Entwicklungsromans?

    4. Weshalb wird die Verbindung zu Thomas Manns »Der Zauberberg« hergestellt? Wer behauptet, dass Th. Mann so den alle Handlung entbehrenden purifizierten Diskussions-, Meinungs- und Räsonnierroman vorwegnimmt?

    5. Weshalb werden diese literarischen Einordnungsversuche vorgenommen, wenn es schlicht nichts gibt oder zu geben scheint, was «formalästhetisch» Despentes Stil von der #Umgangssprache unterscheidet.

    6. Wodurch wird flüssig und gefällig geschriebener Text in Umgangssprache zur Literatur?

    7. Wann wird Umgangssprache in den Kanon der Literatur aufgenommen?

    1. 1. Nun, elektronische Briefe und Briefroman, wie auch immer, gibt es ja viele. Briefe als längere Monologe, die sich abwechseln. Es könnte auch E-Mail-Roman heißen, aber der stünde ja in Tradition mit Briefromanen.

      2. Ich bin mir nicht sicher. Ich verknüpfe Leseerfahrungen. Das ist meine Art, mich mit Literatur zu beschäftigen. Über Mehrwert und Nutzen entscheide ich nicht. Wie als über Vergleiche vermag ich mich sonst Gegenständen zu nähern.

      3. Es gibt viele Möglichkeiten, es zu lesen. Literaturhistorisch hat sich mir aufgedrängt, da es eine sehr pädagogische Schreibweise ist.

      4. Zauberberg hat weite Passagen, die den Aufklärungsdiskurs beschreiben, fast ohne jedwede narrative Einbindung. Auch hier nicht wertend – es findet statt. Ich beschreibe so gut ich kann jenseits von ästhetischen Werturteilen.

      5. Wie kann ich sonst einem Roman begegnen, wenn nicht über seine sprachliche Form? Ich wäre im übrigen dankbar, für Beobachtungen, Details, die mir bei der Lektüre entgangen sind. Ich selbst bin nicht der Meinung, das ich verstanden habe, was da eigentlich von Despentes versucht worden ist.

      6. Das weiß ich auch nicht.

      7. Ich denke fast, es gibt keinen Kanon mehr. Ich versuche mich nur zu orientieren. Die Lesebesprechung zeigt, es gelingt nicht. Kulturpolitisch verstehe ich schon ihn, nur eben nicht sprachästhetisch, und darauf legte ich den Fokus.

      Es sind sehr viele Fragen, aber ich denke, ich habe andeutungsweise die Richtung meines Zuganges klären können. Wie gesagt, an andere Rezensionen, Zugänge zu Despentes’ neuestem Roman bin ich interessiert. Viele Grüße und Danke für die Fragen!

  2. herzlichen Dank für die Antworten:

    zu 1.
    “Liebes Arschloch, ich habe deinen Beitrag auf Insta gesehen. Du bist wie eine Taube, die mir im Vorbeifliegen auf die Schulter kackt. Das ist dreckig und sehr unangenehm. Fiep, fiep, fiep, ich bin ein kleiner Angsthase, für den sich niemand interessiert, und winsle wie ein Chihuahua, weil ich davon träume, dass man mich bemerkt. Ruhm den sozialen Netzwerken. Du hast deine Viertelstunde Ruhm gehabt. Der Beweis, ich schreibe dir.” –
    Diese Dauerschleife der Kommunikation durch Literatur & Tradition per Dialog zwischen Mann und Frau. Die elektronische “Briefe” hin und her senden; welches kaum bewusst schwierig ist, um sich das Vergnügen daran erarbeiten zu müssen. 😉
    Hier wie dort schreiben sich eine Frau (namens REBECCA) und ein Mann (names OSCAR) offensichtlich mit und nebeneinander her. Im Plauderton konversieren sie über dieses und jenes, welches sie in der Kultur und Sozial Media als Verhalten beobachten.

    zu 2. Ich bin mir nicht sicher,
    danke für diese aufrichtige Feststellung Alexander. Auch ich, wie vermutlich jede:r, verknüpfe Leseerfahrungen, doch ob ich diese sofort in ein Genre, eine Gattung und Art der Kunst einbetten muss, um quasi die Orientierung im Feld, Raum oder der Landschaft zu behalten, erscheint mir dann doch sehr absichtsvoll und zielgerichtet zu sein. Nun, es ist deine Art, dich mit Literatur zu beschäftigen, vermutlich auseinanderzusetzen und diese vergleichend zusammenzufassen.
    Über Mehrwert und Nutzen entscheidest du nicht, schreibst du explizit und dies nehm’ ich ernst.
    Und, wie «als über» Vergleiche vermagst du dich und ich mich sonst [den] Gegenständen zu nähern. Und hier “hake” ich offensichtlich ein: wieso & weshalb hast du keine französischen oder anderssprachigen literarischen “Werke” zum Vergleich ausgewählt?
    Oder es z.B. mit Daniel Glattauers “Gut gegen Nordwind” verglichen, der bis heute quasi die Geburt des E-Mail-Romans” behandelt. Der E-Mail-Roman, der im deutschen Sprachraum durch Daniel Glattauer literarisch und auch filmisch etabliert wird?

    zu 3. Es gibt viele Möglichkeiten, es zu lesen. Literaturhistorisch hat sich mir aufgedrängt, da es eine sehr pädagogische Schreibweise ist.

    zu 3.1 Woran erkennst du dies pädagogische in der Schreibweise? Einige Beispiele bitte?

    zu 4. Zauberberg hat weite Passagen, die den Aufklärungsdiskurs beschreiben, fast ohne jedwede narrative Einbindung. Auch hier nicht wertend – es findet statt. Ich beschreibe so gut ich kann jenseits von ästhetischen Werturteilen.
    Interessant. Doch, woran könnte und dürfte ich erkennen, dass du keine ästhetischen Urteile abgibst, die einen Wert hätten?
    Bitte nicht falsch verstehen, mir geht’s wirklich um die Nachvollziehbarkeit, es in Erfahrung und Kenntnis zu bringen. Interessant finde ich auch, dass du den Zauberberg zu diesem E-Mail Dialog zitierst und ihn als Aufklärungsdiskurs beschreibst. Für mich ist der Zauberbeerg ein Gesellschaftsroman und es fällt mir sichtlich schwer hier Paralleln zu ziehen oder zu erkennen.
    Diese interaktiven “Karten” : Instrument der Literaturgeschichte : wollen sich irgendwie nicht in Verbindung und Bezug zueinander setzen lassen, obgleich es Romane sind, die von Gesellschaft und Kultur handeln.

    5. Wie kann ich sonst einem Roman begegnen, wenn nicht über seine sprachliche Form? antwortest du.
    Unterliegt nicht gerade die sprachliche Form im literarischen Sinne dem ästhetischen Werturteil?! frage ich weiter.
    Und weshalb schreibt man darüber und dazu? Entweder da es einem gefällt oder eben nicht???
    Du schreibst weiter:
    “Ich wäre im übrigen dankbar, für Beobachtungen, Details, die mir bei der Lektüre entgangen sind.”
    Ich antworte:
    Ehrlich gesagt kann ich ja gar nicht wissen, was Dir bei der Lektüre entgangen sein könnte!!!
    Und du verlangst doch jetzt nicht ernsthaft von mir diesen Roman unter der Massgabe zu lesen, was dir eventuell bei der Lektüre entgangen sein könnte …..
    Da du im Weiteren schreibst:
    Ich selbst bin nicht der Meinung, das ich verstanden habe, was da eigentlich von Despentes versucht worden ist.
    Und ich frage nach:
    Würde es Dich denn interessieren?

    6. Das weiß ich auch nicht.
    Wieso schreibst du es dann in deinem Blogbeitrag? Ich las es wie eine Bewertung und Urteil, nun, dies könnte mein Problem gewesen sein.

    7. Du denkst fast, es gibt keinen Kanon mehr. Du versuchst dich nur zu orientieren. Diese Lesebesprechung zeigt, es gelingt nicht.

    Doch ich finde schon.

    Kulturpolitisch verstehst du schon ihn, nur eben nicht sprachästhetisch, und darauf legtest du den Fokus.

    An dieser Stelle 7. Fragestellung wird es etwas konfus, d.h. so ziemlich ohne Hand und Fuss. Ok, du denkst, dass es keinen Kanon mehr gibt. Ok. Weshalb gibt’s dann noch Literatursendungen, Rezensionen, Buchmessen, Literaturwissenschaftliche Studiengänge usw. //

    Mich interessiert, was DU genau kulturpolitisch verstanden hast? Wie wäre dein sprachästhetischer Fokus zu umgrenzen, zu definieren und zu markieren?

    Es sind sehr viele Fragen? Viel ist relativ:
    es waren nur 7. Fragen und wenn dies viel ist …

    du konntest für mich bislang kaum andeutungsweise die Richtung deines Zuganges klären; welches nicht schlimm ist, denn eventuell habe ich den Zugang gar nicht gefunden, den du eröffnen oder bereithalten wolltest

    1. Statt die einzelnen Fragen abzuarbeiten, denke ich, dass der letzte Punkt, den du ansprichst, grundlegender als die anderen sind: “du konntest für mich bislang kaum andeutungsweise die Richtung deines Zuganges klären; welches nicht schlimm ist, denn eventuell habe ich den Zugang gar nicht gefunden, den du eröffnen oder bereithalten wolltest”

      Meine Lesebesprechung hatte zum Ziel, über Despentes’ neuesten Roman zu informieren, im weitestgehenden Sinne, also sowohl auf Inhalt wie Form des Romans einzugehen, über Vergleiche, Ähnlichkeiten herauszuarbeiten, und über Verknüpfungen zu anderen Texten, die vielleicht bekannt sind, eine Ahnung zu geben, was ich bei der Lektüre des Textes gefühlt/gedacht/erfahren habe, und was, unter Umständen, andere ebenfalls fühlen/denken/erleben könnten. Alles im Rahmen meines möglichen.

      Meine Besprechungen verfolgen also das Ziel einer kommunikativen Vermittlung meines Leseerlebens, das sich mit anderen, vergangenen, automatisch in Beziehung setzt. Da passieren dann seltsame, interessante, absurde, völlig abwegige Dinge, aber das nehme ich in Kauf. Bspw. erinnerten mich die seitenlangen Diskussionen für und wider Drogen an “Der Zauberberg”. Ich kann das ausholen, begründen. Die Assoziation bleibt. Vor über zwanzig Jahre las ich “Der Zauberberg” und fragte mich an diesen Diskussionsstellen ausgiebig, was ich da eigentlich noch lese, was das mit Hans Castorp zu tun hat etc … dasselbe Gefühl schlich sich bei Depentes’ Roman ein. Ich wusste schlichtweg nicht, was ich da eigentlich lese, ganz wie damals bei der Thomas Mann-Lektüre.

      Mit anderen Worten, mich interessiert, welche Assoziationen andere beim Lesen des Textes von Despentes ereilen, welche Assoziationen sich in das Lesespektrum einsortierten, wie diese Sätze, Absätze sich mit dem Literaturkosmos verbinden. Ich begreife einen einzelnen Text einfach als Ausstrahlungszentrum, mich immer wieder neu in der Literatur zu verorten – deshalb schreibe ich solche Lesebesprechungen, so dass andere anknüpfen, widersprechen, mitassoziieren können. Auf richtig und falsch lege ich keinen Wert.

      Tatsächlich aber wollte ich, gerade wegen des Themas, “Gut gegen Nordwind” lesen. Habe ich nämlich noch nicht, deshalb konnte ich mich nicht darauf beziehen. Deinen Hinweis habe ich als Bestärkung genommen, dies auch wirklich zu tun. Ich hoffe, ich konnte meinen Zugang nun etwas verständlich machen. Viele Grüße!

  3. Ja, in jedem Fall ——

    meine sofortige … «literarische Assoziation»
    wies eher in Richtung David Foster Wallace https://www.wikiwand.com/de/Unendlicher_Spa%C3%9F oder

    Michel Houellebecq
    Vernichten

    und auch zu https://youtu.be/YF6CQGUO7Gs sowie grundsätzlich
    zu Hip Hop, Plauderei, Unterhaltung, Schlagabtausch usw.

    So wie diese heute immer üblicher werden [in »anal fixierten, liebessüchtigen, sexhungrigen und an Suchtstoffen sowie Genussmittelmissbrauch etc. orientierten – gewohnten und gewöhnten Konsum-Kulturen und Gesellschaften«] = {es ist einfacher du Arschloch als SIE Arschloch zu sagen} = die (menschliche) Beziehung zwischen den drei scheint nahezu in jeder Form als E-Mail Korrespondenz. Somit an ein der beziehungstechnisch-sozial-abzurutschen. Und zwar zwischen dieser Schauspielerin, dem Autor und der feministischen Internetaktivistin. Diese Dreier-Konstellation wirkt konfliktreich. Die zahlreichen Vorwürfe, die doch irgendwie aneinander abzugleiten scheinen, sind angeblich unterhaltsam:
    Mit “Klischees” ist dieser Dreier gespickt, der sogleich stereotyp wirkt … möchte ich kurz sagen.

    Stellt dieser Roman wirklich, tatsächlich und noch kaum bekannte Malapropismen her?

    “Ich prokrastiniere. Das ist etwas anderes als eine Schreib­blockade. In meinem Kopf habe ich ganze Dialoge fertig, konkrete Szenen, ich weiß, was ich schreiben will. Aber ich beschäftige mich mit etwas anderem. Nichts Interessan­tem. Auch nichts Angenehmem. Es ist schwer zu erklären. Schriftsteller zu sein ist beschissen, weil deine Freunde glauben, dass du zwei, drei Stunden pfeifend irgendwel­chen Blödsinn in die Tasten haust, und das war dann dein Arbeitstag. Wie soll man ihnen erklären, dass das Schrei­ben trotz der simplen Rahmenbedingungen so schwierig ist und deine ganze Zeit dafür draufgeht, es wenigstens zu versuchen. Also habe ich diesen Monolog einer Frau, die aus dem Gefängnis entlassen wird und Paris nach fünfzehn Jahren neu entdeckt, nie geschrieben. Ich prokrastiniere. Aber zur­zeit ist es anders, ich bin völlig blockiert. Ich habe gerade einen Roman herausgebracht, und alle reden über mich, nur nicht wegen meines Buchs. Ich bin ein Opfer von #Me­Too. Das wünsche ich meinem ärgsten Feind nicht an den Hals. Mein Eindruck ist, alle wissen Bescheid. Daher sage ich es dir. Vielleicht wirst du mir jetzt nie mehr schreiben. Ich kann zwar nicht behaupten, dass ich es verstünde, aber du wärst nicht die Erste.”

    oder

    “Das Problem ist also, dass ich Klage erhebe inmitten
    Hunderttausender Klagen, wo eigentlich Schweigen und
    Auslöschung herrschen sollten. Meine Stimme ist eine
    Schneeflocke in der Lawine, die euch überrollt. Ich ergreife
    das Wort, ich sage, ich bin jeden Tag mit Bauchweh zur
    Arbeit gegangen. Weil es mich angeekelt hat, dass ich trotz
    meines großen Ekels hingegangen bin. Ich schämte mich
    für meine Wut und für meine Unfähigkeit, sie zu äußern.
    Nicht alle Männer in dem Laden waren Dreckskerle. Aber
    alle Männer waren Komplizen aufgrund eines ungeschrie­-
    benen Gesetzes – der öffentliche Raum ist Jagdrevier. Nicht
    alle jagen. Aber alle lassen den Jäger gewähren. Insgeheim
    war ich überzeugt, ein naives Dummchen zu sein.”

    oder
    “Die männliche Emanzipation hat nie stattgefunden. Eure Fantasie ist gefügig. Sagt jemand »Herrschaft«, kriegt ihr einen Steifen allein um der Herrschaft willen. Sagt jemand, ihr sollt in den Krieg ziehen, antwortet ihr, Waffen sind wichtiger als die Luft zum Atmen oder das Wasser zum Trinken, Waffen sind das Salz der Menschheit. Wir fallen über die Arbeitgeber her, und das versetzt euch in Panik. Schnell steht ihr Gewehr bei Fuß, um die Chefs zu vertei­
    33digen. Genau das tut ihr – ihr steht Gewehr bei Fuß, um nachzuplappern, dass der Vorgesetzte das Recht hat zu ma­chen, was er will. Wir hören genau, was ihr uns sagen wollt, befreit euch bloß nicht aus euren Ketten, am Ende sprengt ihr auch unsere noch dabei.”

    es ist zu einfach und zu leicht zu lesen, dies Dreieck,
    welches für mich »dynamisch« nicht einmal zu so etwas, wie ein Dramadreieck wird

    1. Ja, die Assoziation kann ich nachvollziehen. “Vernichten” in jedem Fall. David Wallace Foster lese ich gerade, mehr oder weniger erfolgreich. Die Drogenthematik passt, doch wird dort viel mehr auf die Befindlichkeiten, die Wahrnehmungsstörungen und die selbstinduzierten Realitätsverzerrungen eingegangen. Der Unterschied unserer Herangehensweise ist, dass ich mehr versuche, die Textoberfläche zu analysieren, zu beschreiben, als systemtheoretischer Lektüreraum. Dramatik und Dynamik gibt es tatsächlich nicht. Gerade dies wollte ich damit zum Ausdruck bringen, dass die Sprache keine Eigengesetzlichkeit bekommt, sondern fad auf Externalia verweist, stockt und vor sich hin stochert. Ich freue mich dann auf unser Gespräch, wenn ich “Unendlicher Spaß” bespreche. Vielen Dank, dass du dich mit meinem Text so auseinandergesetzt hast. Und auch vielen Dank für deine Beispiele. All dies erfreut meine Blogtätigkeit und motiviert mich, mich weiter um Verständlichkeit zu bemühen 🙂 Viele Grüße!

      1. Danke vielmal. Ja, dies trifft es gut. Und der Unterschied unserer Herangehensweise ist und wird {offensichtlich} erkennbarer, so dass du mehr versuchst, die Textoberfläche zu analysieren, zu beschreiben, als systemtheoretischer Lektüreraum {darzustellen?}” – Und, wie differenzierst du den systemtheoretischen Lektüreraum von der „Intertextualität” (Konzept) des Lektüreraums?

        {ok, dies wird schon ziemlich abstrakt}

        Danke, für die Bestätigung auch, dass es tatsächlich keinerlei Dramatik und Dynamik gibt und die Sprache fad und stochernd daherkommt ohne mich als Lesende wirklich zu berühren oder gar zu fesseln. Spannend, dass du es als keine Eigengesetzlichkeit der Sprache formulierst und vermutlich so etwas wie »SprachStil« meinen könntest, welcher sich in diesem Roman nicht abzuzeichnen vermag, noch entwickelt. Sondern sich bloss als “Abbild” der E-Mail Korrespondenzen des Schriftverkehrs zwischen einer Schauspielerin, einem Autor und einer Internetaktivistin zeigt, als hätten sie sich nur darüber geeinigt es als Buch zu veröffentlichen : Mitteilungsform, die einfach mitteilt, ohne an irgend einer Stelle so etwas wie Anteil- und Beziehungsnahme gegenseitig hervorzurufen, oder habe ich es da einfach überlesen? // Egal, du möchtest mit mir den unendlichen Spass besprechen … nur zu.

        1. Ich muss Foster erst zu Ende lesen. Danke für die Motivation – ich verstehe deinen Aspekt sehr gut, über die Differenz zwischen systemtheoretischen Lektüreraum und der Intertextualität des Lektüreraums muss ich mir noch Gedanken machen. Ich begreife die Literatur selbst als System (mit Gesellschaft als Umwelt), und betrachte einzelne Werke als Beiträge zu dieser Art der Wechselwirkung mit Erinnerung, Aktivität und Erleben in der Gegenwart wie Antizipatorisches aus der Zukunft (gegenwärtige Zukunft). Noch anders ausgedrückt, für mich ist die Wertung das Initial, das ich mittels meiner Besprechung entfalte. Was ich schrieb, entstand aus der Emotion, dass “Liebes Arschloch” einfach für mich kein gutes Buch gewesen ist (von Anfang bis Ende und Zwischendrin) – diese Initial nahm ich als Beobachterstandpunkt und bewegte innerhalb des Systems Literatur, um vielleicht doch noch was für mich herauszukitzeln. Viele Grüße und nochmals Danke für dein Interesse!

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