Annika Büsing: „Nordstadt“

Nordstadt

Literarisch antizipierter Ausbruchsversuch

Ausführlicher, vielleicht begründeter: https://kommunikativeslesen.com/2023/…

Annika Büsings Debütroman zeichnet sich vor allem durch seine Unumwundenheit aus. Die Ich-Erzählerin Nene nimmt kein Blatt vor dem Mund und plaudert, wie ihr der Schnabel gewachsen ist. Sie springt zwischen den Erinnerungen und Themen umher und berichtet von ihren Erfahrungen mit Boris, in den sie sich verliebt und der an einer verkrüppelten Fuß leidet. Sie stört sich aber weniger an seinen Fuß als ein wenig an seinen Zähnen:

„[Boris] hatte keine guten Zähne. Also gut waren sie schon, aber schief, und schiefe Zähne, die brandmarken einen Menschen irgendwie, finde ich. Aber vielleicht finde ich das nur, weil ich mit Zac Efron und Florian David Fitz aufgewachsen bin. Deren Zähne sind einfach perfekt. Und wenn ihre Leben noch so scheiße sind, einsam und erbärmlich, ihre Zähne rocken. Boris fand das oberflächlich.“

Wie der Abschnitt zeigt, handelt es sich bei „Nordstadt“ um eine besondere Form des Jugendbuches in Jugendsprache. Die Sätze sind kurz. Die Themen klar um Sexualität, um Eltern, Schule und das langsame Hineingleiten in das Erwachsenenleben zentriert. Die Erinnerungen an die Kindheit dominieren die Assoziationsverläufe und der Bezug zu den Eltern die relevanten Werthorizonte:

„Boris hasst Menschen im Allgemeinen. Das unterscheidet uns stark voneinander. Ich hasse einige Menschen bis aufs Blut: meinen Vater und meine Mutter, obwohl sie tot ist, und alle Menschen, die anderen Menschen (oder Tieren) wehtun.“

Büsing behandelt in ihrem Roman die Themen Impfen, häusliche Gewalt, Leistungsdruck, Altersarmut und weitere Problembereiche in einer sozial ausdifferenzierten, von sozioökonomischer Ungleichheit geprägten Welt. Literarisch wird „Nordstadt“ ab der Hälfte seines sehr knappen Umfanges, wenn über Wiederholungen deutlich wird, dass es sich eher um eine Ballade, um eine Art Prosagedicht, Rap oder Rezitativ handelt, denn um einen breitangelegten fiktionalen Text:

„Dann gibt es noch all die Erlebnisse, bei denen er [Boris] festgestellt hat, dass er Dinge nicht kann, die andere können. Und das ist jetzt ein ständiger Schluckauf: Das kannst du nicht. Es kommt hoch und er kann nichts dagegen tun. Das kannst du nicht. Rammt sich mit aller Macht in sein Bewusstsein, in alles Schöne. Das kannst du nicht. Leute haben es gesagt oder er hat es festgestellt.
Das kannst du nicht.
Das kannst du nicht.
Das kannst du nicht.
Das kannst du nicht.“

„Nordstadt“ von Annika Büsing besitzt insofern viel mehr Ähnlichkeit mit Julia Engelmann und ihren Sprech- und Poetryslam wie in „Lass uns mal an uns selber glauben“ als etwa mit einer Valerie Fritsch und ihrem Debütroman „Winters Garten“. Büsing lotet den Graubereich zwischen Sprechen und Schreiben, zwischen Gedicht und Erzählung aus und gewinnt am Ende einen gewissen Mut dadurch, dass Grenzen aufgewiesen werden, die allzu einengend beim Lesen empfunden werden können. Die Hoffnung besteht in antizipierten literarischen Ausbruchsversuchen, der als antizipierter hier noch nicht vollzogen wurde.

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