Stefanie vor Schulte – Junge mit schwarzem Hahn

Stefanie vor Schulte - Junge mit schwarzem Hahn

Der Grausamkeit trotzend – ein Märchen von schauriger Schönheit.

Ausführlicher, vielleicht begründeter: https://kommunikativeslesen.com/2022…

Selten tauchen Romane in der Gegenwart auf, die vom ersten Wort an, Eigensinn und Eigengesetzlichkeit beanspruchen. Sie wehren sich des Vergleichs und sprengen eine eigenartige Form von Zeitlichkeit. Stefanie vor Schultes Roman „Junge mit schwarzem Hahn“ gehört zu diesen Werken. Äußerlich eine Art Märchen, inhaltlich eine Fabel auf Widerständigkeit, rhythmisch eine Parabel aufs Erzählen, und doch sonderbar romantisch in seiner poetischen Vermittlung des Hässlichen mit dem Schönen.

„Manchmal hockt der Hahn auf der Kurbel des Schleifsteins, der mit den Jahren ins Erdreich gesunken und jetzt mit Flechten überwuchert, vom Frost unverrückbar festgebacken ist. An dem hat der Vater sein Beil erst geschärft und alle bis auf den Jungen erschlagen. Da hat es vielleicht angefangen.“

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Susanne Abel: “Stay away from Gretchen”

Susanne Abel "Stay away from Gretchen"

Als Dokument 5 von 5 Sternen, aber nicht als Literatur. Kaum mehr als ein Bericht.

Ausführlicher, vielleicht begründeter: https://kommunikativeslesen.com/2021…

Nachdem es nun schon seit Monaten in den Top-Seller-Listen aller renommierten Buchverkäufern gewesen ist, habe ich mich entschlossen, es nun doch zu lesen. „Stay away from Gretchen“ von Susanne Abel schreckte mich bislang (im Buchpreview) ob seiner kargen, ja, fast trostlosen sprachlichen Einfachheit und Sprödigkeit ab. Das Probelesen fand seine Bestätigung. Susanne Abel berichtet. Sie formt keine Ereignisse. Sie gibt zu Protokoll. Sie schreibt hintereinander weg, was gesehen wird. Ein Zeugenbericht, wie intensiv auch immer, wird jedoch zu keiner literarischen Form, wie sehr sich das neumodische Schreiben dies auch auf die Fahne schreibt und in der neuen Sachlichkeit der Bauhaus-Philosophie zelebriert.

„An der Tür einer Baracke drehte er sich noch einmal um und winkte. Greta hob ihre Hand. Am liebsten wäre sie ihm hinterhergerannt. Aber sie blieb stehen. Und sah ihn in der Tür verschwinden. Sie blieb. Wie versteinert. Lange und frierend. Bis sie verstand, dass die Tür verschlossen blieb. Dann ging sie durch die Kälte die zwei Kilometer nach Hause in die kleine Altstadtwohnung.“

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Leïla Slimani: “Das Land der Anderen”

Leïla Slimani: "Das Land der Anderen"

Karge, unbeteiligte Wiedergabe einer Familie in der Einöde eines von Gewalt zerrissenen Landes

Ausführlicher, vielleicht begründeter: https://kommunikativeslesen.com/2021…

Leïla Slimani beschreibt mit journalistischer Kälte und unpoetischer Beliebigkeit, die Lebensschicksale vieler Menschen zugleich; Mathilde, die einen marokkanischen Oberst heiratet; Amine, dieser marokkanische Oberst selbst, der Olivenbäume auf unfruchtbarem Boden züchten möchte; Selma, die Schwester Amines, die den Traum von einem freien, sorglosen Lebens als Partygirl frönt und sich aus Angst vor ihrem Bruder mit einen alten, homosexuellen Soldaten verheiraten lässt; eine dement werdende Mutter aus Meknès, einen Gynäkologen, Dragan, aus Ungarn und seine üppige, walkürenhafte Frau Corinne, die sich Kinder wünscht, aber keine bekommt. Die Liste könnte noch lange fortgesetzt werden. Die Fülle jedoch ersetzt nicht das Detail. Die Ereignisse jagen aneinander in kaum zu überbietender Beliebigkeit. Vor allem fehlt Empathie, der Wunsch, tiefer zu blicken, mehr zu verstehen, von Ängsten, Hoffnungen und Wünschen zu erzählen.

„In der Nacht hatte sie [Aicha, Mathildes Tochter] einen Traum gehabt, so lang wie die Schale der Äpfel, die Mathilde mit zusammengepressten Lippen pellte, um eine möglichst lange Girlande aus der Haut der Frucht zu machen.“

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Constantin Schreiber: “Die Kandidatin”

Achtung. Erfundene Fakten erzeugen keine Geschichte. Unbedingt Finger von lassen.

Ausführlicher, vielleicht begründeter: https://kommunikativeslesen.com/2021…

Wer Trickbetrügern auf den Leim geht, hat das Nachsehen. Wie manche Scalper auf Ebay leere Verpackungen von beliebten Elektrogeräten wie der Playstation 5 verkaufen und ihren Reibach machen, so zieht hier Constantin Schreiber einen grinsend über den Tisch. Und ja, er hat recht. Ich habe das Buch gekauft und gelesen, fassungslos, bis zum Ende, in der irrigen Hoffnung, den letzten Rest an Anstand zu entziffern, zwischen den Zeilen erlesen zu können. Aber nein. Das Buch ist, was es ist. Reinste Abzocke. In Babysprache eines untalentierten Rappers aus dem Wohlstandmilieu der sich mit sich selbst langweilenden und funktionslos gewordenen Bildungsbürger wird ideenloser Sprachsalat zum Besten gegeben:

„Auf einem sehr verwackelten Handyvideo rennt eine Frau in blutgetränkter Bluse mit ihrem Baby im Arm über eine Straßenkreuzung, offenbar beim Versuch, sich in Sicherheit zu bringen. Ein Soldat steht hinter einer Hauswand ein paar Meter weiter. Er springt hervor, holt mit dem Maschinengewehr aus und rammt es der Frau ins Gesicht. Sie fällt auf die nasse Straße, das Baby wird durch die Luft geschleudert und landet hart auf dem Bordstein. Es bleibt regungslos liegen.“

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Iris Hanika: “Echos Kammern”

Echos Kammern

„Glück ist, wenn man ganz bei sich ist“ … sprachlicher Höhepunkt der Gegenwartsliteratur

Ausführlicher, vielleicht begründeter: https://kommunikativeslesen.com/2021…

Iris Hanikas Roman handelt von zwei Frauen und zwei Städten, von Sophonisbe und Roxana, und von Berlin und New York. Es geht um Sinn, Enttäuschung, Liebe, Karriere, Beruf und Freunde, vor allem jedoch geht es um den Versuch, seinen Ort in der Welt zu finden, seinen Beobachtungsstandort zu kennzeichnen, ja, eine Sprache zu erwerben, in der die Dinge nicht sofort von jeder Bedeutung entleert sind.

Wie dieser Umriss einer Inhaltsgabe zeigt, eine besondere Geschichte wird nicht erzählt. „Echos Kammern“ ist mehr die Zeit im Bild der Sprache einer Generation, die noch nicht mit Smartphones und dem Internet aufgewachsen ist, eine Generation, die also hilflos unvorbereitet auf die sozialen Medien mit Konsternation und innerer Emigration reagiert, nicht wertend, einfach überrascht, überholt, fragwürdig geworden.

„Einmal in die Welt hinausgerufen, schallt er [der Plan] zurück, verstümmelt zwar, doch die Anmutung seiner Herrlichkeit bleibt, flirrend, schillernd, glitzernd; eine Ahnung davon, wie schön es hätte werden können, nicht nur das, wofür man den Plan gemacht hatte, sondern überhaupt alles – wie schön alles hätte sein können, die ganze Welt, das ganze Leben.“

Meiner Ansicht nach ein sehr lesenswertes Buch für alle. Die verdichtende Erzählhaltung, der Witz, der Schmerz, das Lyrische und Syntagmatische erzeugen eine eigene Einheit, einen modernen Hymnus zwischen Wiederkunft und Vergessen, zwischen Verlorenheit und Selbstbehauptung. Die Protagonistinnen geben Hoffnung. Die Liebe zu Berlin ist ungebrochen, ein Berlin-Roman, der der Utopie und der Geschichte der Stadt gerecht wird, im Sinne von Walter Benjamins „Berliner Kindheit um 1900“ und seinem Begriff vom Flaneur und dem in sich verwobenen Verheißungen des unvollendet gebliebenen Passagenwerks.

Wer dieses Buch mag, mag Clarice Lispectors „Die Sternstunde“ und Ingeborg Bachmanns „Malina“ und auch von Max Frisch „Der Mensch erscheint im Holozän“ oder eben, traditionell, Rainer Maria Rilkes „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“, von dem ebenfalls implizit das wundervolle Buch von Hanika handelt. Komparativ ähnelt es zudem sehr Christa Wolf „Stadt der Engel“, nur eben handelt es von Bagels und Starbucks in Manhattan und nicht wie Wolfs Roman von Racoons in Los Angeles.