Elke Engelhardt: „Sansibar oder andere gebrochene Versprechen“

Elke Engelhardt: "Sansibar"
Spuren einer Lyrik des sanften und zeitgewährenden Zwischenklanges.

Ausführlicher und vielleicht begründeter:  https://kommunikativeslesen.com/2022/…

Gedichtbände haben es heutzutage schwer. Sie drängen sich selten auf. Sie machen nicht viel Aufsehens und Aufhebens um sich. Sie flüstern im Stillen. Elke Engelhardts Buch „Sansibar oder andere gebrochene Versprechen“ stellt in dieser Hinsicht keine Ausnahme dar, in einer anderen schon. Selten wurde dem Wort so viel Freundlichkeit, Langsamkeit und Sichtbarkeit zugesprochen. Der Gedichtband handelt von Sprachvorsicht:

„Erst muss man die Worte erfinden,
dann kann man sich tragen lassen von der Sprache.
Eine schreibt wie die Duras
(das ist die Duras selbst)
ein anderer zwängt sich in ein zu enges Korsett.“

Elke Engelhardt aus: “Sansibar oder andere gebrochene Versprechen”
„Elke Engelhardt: „Sansibar oder andere gebrochene Versprechen““ weiterlesen

Thomas Kunst: „Zandschower Klinken“

Thomas Kunst: „Zandschower Klinken“

Ein musikalischer Thomas Bernhard aus der ostdeutschen Provinz. Literarischer Hochgenuss.

Ausführlicher, vielleicht begründeter: https://kommunikativeslesen.com/2022…


Das Leben auf dem Lande wird seit kurzem, und vielleicht auch wegen der Home-Office-Covid-19 Situation, idealisiert. Viele Gegenwartsromane greifen auf diesen Topos zurück. „Zandschower Klinken“ zerschneidet diesen Romantismus jedoch gekonnt und mit sprachlicher Hochgeschwindigkeitsrhythmik. Statt eine Großstädtler-Brille aufzuziehen und ein imaginäres Zurück-zur-Natur zu feiern, artikuliert Thomas Kunst auf hochversierte Art und Weise die ländliche Tristesse und die Gegenmaßnahmen, die die Individuen inszenieren, um nicht vor Langeweile und Isolation einzugehen.

„Ich sage in der sich allmählich ausbreitenden Dämmerung das Alphabet auf. Wenn beim Aussprechen der Buchstaben M, P und Y jeweils links oder rechts ein Baum am Straßenrand steht, komme ich in dieser Nacht noch unzählige Kilometer weiter. Abweichungen von zwei bis fünf Fuß sind erlaubt. Ich will ja nicht kleinlich sein. Fast die gleiche Anzahl Bäume zu beiden Seiten der Fahrerkabine. Landstraße, Autobahn, Landstraße, aber in umgekehrter Reihenfolge. Ich glaube, ich mache das jetzt jedes Wochenende. Die Welt ist das Größte auf der Erde.“

„Thomas Kunst: „Zandschower Klinken““ weiterlesen

Louise Glück: „Winterrezepte aus dem Kollektiv“

Rezension. Louise Glück: "Winterrezepte aus dem Kollektiv"

Vom Zauber der Kommunikation: Weder schreien noch schweigen, noch flüstern.

Ausführlicher, vielleicht begründeter: https://kommunikativeslesen.com/2022…

Louise Glücks „Winterrezepte aus dem Kollektiv handelt von Genesung, Rekonvaleszenz, Abschied und Verlangsamung. Als Stimmungsbild ergibt sich das Vergehen einer sanften Zeit inmitten eines asiatischen Steingartens. Die Sprache ist einfach. Die Worte schnörkellos. Das Druckbild übersichtlich, mehr Weiß, mehr Leerraum, entlastend, so dass die einzelnen Strophen wie ein Flüstern, Wispern im Wind wirken. Das lyrische Ich befindet sich in einer Art Wellness-Tempel mit Concierge, einer Institution, in der es Lehrer fürs Malen, fürs Nachempfinden, für Kalligraphie und Tipps für eine optimale Lebensführung gibt. Gespräche mit einem Abgereisten, mit der Schwester, über die Mutter binden das lyrische Ich zurück an eine Welt, die es so nicht mehr für es gibt.

„Eine Krankheit befiel mich,
deren Ursache man nie feststellte,
obwohl es zunehmend schwierig wurde,
Normalität vorzutäuschen,
Gesundheit oder Lebensfreude –
Mit der Zeit wollte ich nur noch mit denen zu tun haben, die wie ich waren“

„Louise Glück: „Winterrezepte aus dem Kollektiv““ weiterlesen

Bernhard Schlink: “Die Enkelin”

Bernhard Schlink: "Die Enkelin"

Eine literarische Antwort auf politische Hilflosigkeit. Ein kurzes Aufatmen im Gefüge.

Ausführlicher, vielleicht begründeter: https://kommunikativeslesen.com/2021…

Bernhard Schlink schreibt mit „Die Enkelin“ den Gegenroman zu Juli Zehs „Über Menschen“, knüpft an Edgar Selges Familiendrama „Hast du uns endlich gefunden“ an und vermittelt im Unmöglichen, was Christoph Hein in „Guldenberg“ nicht gelingt. Er verfällt weder in Bevormundung, Belehrung, noch in resignierter Selbstbeschimpfung wie Heinz Strunk „Es ist immer so schön mit dir“, noch imaginiert er die Versöhnung einer auf Grund gelaufenen Ehe wie Daniela Krien in „Der Brand“. Kurzum, Schlink gelingt mit „Die Enkelin“, was wenigen in der Gegenwartsliteratur gelingt. Er deeskaliert mit Sprachgefühl und kommuniziert weder mit Ehrfurcht noch mit Herablassung.

„Die Fahrt durch den Regen, die Tropfen, die an der Scheibe herabliefen, schnell oder langsam, in kürzerer oder in längerer Spur – es machte Kaspar traurig. Manche Tropfen blieben klein, andere verschmolzen miteinander und wurden groß, alle wurden früher oder später vom Wind fortgeweht. Natürlich wusste er, dass die Tropfen nicht die Vergänglichkeit und Vergeblichkeit des Lebens offenbarten. Sie offenbarten auch nicht, dass Menschen ihre Wege nehmen und nicht zueinanderfinden, wenn der Wind des Schicksals sie nicht miteinander verschmilzt. Und doch quälte ihn alles dies.“

„Bernhard Schlink: “Die Enkelin”“ weiterlesen

Jenny Erpenbeck: “Kairos”

Jenny Erpenbeck: "Kairos"

Trabantenstädte der Tristesse: Freie, sprachgewandte Literatur auf der Höhe der Zeit.

Ausführlicher, vielleicht begründeter: https://kommunikativeslesen.com/2021…

Jenny Erpenbecks Roman „Kairos“ reiht sich thematisch zunächst nahtlos in die typische Gegenwartsliteratur ein. Es handelt vom geteilten Deutschland, vom Leben in der DDR, von den Versuchen einer Vergangenheitsaufarbeitung, von Politik, Liebe und Sadomasochismus, von alter Mann trifft und liebt junge Frau, Braunhemden, Ostalgie und Walter-Ulbricht-Traumata. Überraschenderweise wendet sich das Blatt nach hundert Seiten jedoch. Waren die ersten Kapitel mühsam, karg, langweilig, geradezu nebensächlich, adjektivlos, flach, so beginnt nach etwa hundert Seiten eine Tour de Force der spracherfrischenden Fremd- und Selbsterforschung.

„Etwas beginnt, etwas geht zu Ende – oder erfüllt sich. Aber dazwischen windet die Zeit sich ins Leben hinein, verflicht sich, verwächst sich, ist nur eines nie: gleichgültig, sondern immer gespannt, eingespannt zwischen einem Anfang, den man nicht wahrnimmt, weil man mit dem Leben beschäftigt ist, und einem Endpunkt, der in der Zukunft, also im Dunkel, liegt.“

„Jenny Erpenbeck: “Kairos”“ weiterlesen

Antje Rávik Strubel: „Blaue Frau“

Antje Rávik Strubel: „Blaue Frau“

Verstörende Hoffnungslosigkeit zwischen Ohnmacht und Flucht: Lesenswert.

Ausführlicher, vielleicht begründeter: https://kommunikativeslesen.com/2021…

Romane über Gewaltverbrechen pendeln zwischen Voyeurismus und Verzweiflung. Die ersteren beuten das Geschehnis aus, ob des Skandalons. Die zweiteren ergeben sich der Ohnmacht und gleichen einem Stoßgebet gen Himmel, es möge endlich Gerechtigkeit auf Erden obwalten. Die einen nehmen für sich in Anspruch, kein Blatt vor den Mund zu nehmen und den Schrecken zu pädagogisieren („Der Heimweg“ von Sebastian Fitzek), die anderen die emotionale Macht der Sprache für den Einspruch zu mobilisieren („Raum“ von Emma Donoghue). Von allen typischen Varianten gelingt Antje Rávik Strubel mit „Blaue Frau“ der bestmögliche Ausweg aus einer selbstgewählten Unmöglichkeit und ausweglosen Aufgabe: das Metalyrische.

„Abendsonne hat die Bootsschuppen, das Wasser und die algenüberspülten Steine erfasst. Blätter liegen im Sand, gelb durchsprenkeltes Grün der Birken. Die Stämme sind nass, die Flechten schattig von Feuchtigkeit. Die blaue Frau kommt vom Ufer herauf. Als die Röte nachlässt, bleibt ein Schimmer auf ihrem Gesicht zurück, verschiebt es, richtet es neu ein. Die Haut wie die Faltungen des Sandes. Sie erinnert mich an jemanden.“

„Antje Rávik Strubel: „Blaue Frau““ weiterlesen

Iris Hanika: “Echos Kammern”

Echos Kammern

„Glück ist, wenn man ganz bei sich ist“ … sprachlicher Höhepunkt der Gegenwartsliteratur

Ausführlicher, vielleicht begründeter: https://kommunikativeslesen.com/2021…

Iris Hanikas Roman handelt von zwei Frauen und zwei Städten, von Sophonisbe und Roxana, und von Berlin und New York. Es geht um Sinn, Enttäuschung, Liebe, Karriere, Beruf und Freunde, vor allem jedoch geht es um den Versuch, seinen Ort in der Welt zu finden, seinen Beobachtungsstandort zu kennzeichnen, ja, eine Sprache zu erwerben, in der die Dinge nicht sofort von jeder Bedeutung entleert sind.

Wie dieser Umriss einer Inhaltsgabe zeigt, eine besondere Geschichte wird nicht erzählt. „Echos Kammern“ ist mehr die Zeit im Bild der Sprache einer Generation, die noch nicht mit Smartphones und dem Internet aufgewachsen ist, eine Generation, die also hilflos unvorbereitet auf die sozialen Medien mit Konsternation und innerer Emigration reagiert, nicht wertend, einfach überrascht, überholt, fragwürdig geworden.

„Einmal in die Welt hinausgerufen, schallt er [der Plan] zurück, verstümmelt zwar, doch die Anmutung seiner Herrlichkeit bleibt, flirrend, schillernd, glitzernd; eine Ahnung davon, wie schön es hätte werden können, nicht nur das, wofür man den Plan gemacht hatte, sondern überhaupt alles – wie schön alles hätte sein können, die ganze Welt, das ganze Leben.“

Meiner Ansicht nach ein sehr lesenswertes Buch für alle. Die verdichtende Erzählhaltung, der Witz, der Schmerz, das Lyrische und Syntagmatische erzeugen eine eigene Einheit, einen modernen Hymnus zwischen Wiederkunft und Vergessen, zwischen Verlorenheit und Selbstbehauptung. Die Protagonistinnen geben Hoffnung. Die Liebe zu Berlin ist ungebrochen, ein Berlin-Roman, der der Utopie und der Geschichte der Stadt gerecht wird, im Sinne von Walter Benjamins „Berliner Kindheit um 1900“ und seinem Begriff vom Flaneur und dem in sich verwobenen Verheißungen des unvollendet gebliebenen Passagenwerks.

Wer dieses Buch mag, mag Clarice Lispectors „Die Sternstunde“ und Ingeborg Bachmanns „Malina“ und auch von Max Frisch „Der Mensch erscheint im Holozän“ oder eben, traditionell, Rainer Maria Rilkes „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“, von dem ebenfalls implizit das wundervolle Buch von Hanika handelt. Komparativ ähnelt es zudem sehr Christa Wolf „Stadt der Engel“, nur eben handelt es von Bagels und Starbucks in Manhattan und nicht wie Wolfs Roman von Racoons in Los Angeles.

Judith Hermann: “Daheim”

Friedliche Zeilen in entfremdeter Zeit – unbedingt lesenswert.

Ausführlicher, vielleicht begründeter: https://kommunikativeslesen.com/2021…

Judith Hermanns Roman handelt von einem Fluchtstück, Neubeginn, von Meer, Dünen und den zarten Zeilen wortkarger Freunde, die einer heimatlosen Frau eine Ahnung von dem geben, was andere ein Zuhause nennen. Während sich die Tochter auf Weltreise befindet und ihre Koordinaten durchgibt, der Ex-Mann auf die Apokalypse wartet und sich in seinem Archiv verkriecht, erschließt sich die Protagonistin neue Welten direkt vor ihrer Tür, scheut nicht den Schmerz, noch die Enttäuschung.

“So weit weg am Rand des Kontinents und da, wo die Dinge sich verschärfen. Ihre Koordinaten entfernen sich, sie tritt in ein Gewässer ein, das ungefähr ist und auf den Landkarten nicht mehr vermerkt. Als wäre die Welt eine Kugel, die aufbricht, sich in ein Universum ergießt.”

„Judith Hermann: “Daheim”“ weiterlesen

Amanda Gorman: “The Hill We Climb”

Nur der Inaugurationsvortrag und dazu noch in miserablem Deutsch (siehe unten für Beispiel).

Ausführlicher, vielleicht begründeter: https://kommunikativeslesen.com/2021…

Ganz unabhängig von aller politischen Euphorie oder Dystopie, von einer Parteilichkeit abgesehen. Ich habe mir diesen Text gekauft in der Hoffnung, noch wenigstens ein, zwei Gedichte, eine längere Version, überhaupt irgendetwas Poetisches/Lyrisches zu erhalten. Weit gefehlt. Es handelt sich nur um eine deutsche Übersetzung des frei erhältlichen englischen Vortrages anlässlich Bidens Inauguration. Wie immer man diesen Augenblick für sich beurteilt, es handelt sich mehr um eine Rede, eine Hoffnung, eine Hymne, im Vergleich eben zu Martin Luther King Jr. „I have dream“ … von Literatur/Lyrik/Kunst würde ich nicht reden. Das Politische, Rhetorische drängt sich zu sehr auf.

Zur deutschen Übersetzung lässt sich nichts Gutes sagen. Ich gebe ein Beispiel. Im Englischen heißt es: “We will not be turned around // or interrupted by intimidation, // because we know our inaction and inertia // will be the inheritance of the next generation.”

In der Übersetzung wird daraus: „Wir werden uns von Störmanövern // nicht auf- und nicht abhalten lassen, // denn Trägheit und Untätigkeit // gäben wir als Erbe an die Nachgeborenen weiter.“

Nicht nur die ärgerliche Reminiszenz an Brechts „An die Nachgeborenen“ (im Englischen „To those Born After“), die hier völlig fehl am Platz ist, aus so vielen Gründen, viel gravierender das militärische „Störmanöver“, das im Englischen fehlt und der Sanftheit und Zurückhaltung des Originals gar nicht entspricht. Die Übersetzung ist eine Minutenarbeit. Die Lektüre auch. Ich wiege nicht Kunst mit Geld auf. Wer für eine schlecht übersetzte politische Gospel Geld hinlegen möchte, ist herzlichst dazu eingeladen. Ich war enttäuscht, und ja, ich hätte mir die Produktbeschreibung genauer durchlesen sollen.

Slavoj Zizek: “Sex und das verfehlte Absolute”

Die Gegenwart in Gedanken gefasst – Reflexionseinübung auf höchstem Niveau.

Ausführlicher, vielleicht begründeter: https://kommunikativeslesen.com/2021…

Ein 592 Seiten in sich verwinkeltes, sich wiederholendes, re-paraphrasierendes hypo- und parataxisches Ungetüm – Zumutung oder Befreiungsschlag, Großdenker oder Provokateur? Es geht um Beckett, um Lenin, um den Holocaust, um MeToo. Es geht um Freud, Lacan, immer wieder Hegel. Es geht um Badiou, den Kollaps der Wellenfunkton in der Quantenmechanik, um Kafka, Zupancic, um Butler und Kristeva, rund um den stets herauswabernden Kant und Schelling, das Unheimliche Platons, Trump, Zynismus und die ewige Wiederkehr von Geschlechter-Binärem, dem Symbolischen, Imaginären, dem Realen des Hollywood Kinos, über Cary Grant zu Tom Cruise, Hitchcock vor und zurück und independent Science-Fiction Filme, Neurologie, künstliche Intelligenz und dem Virtuellen am Sex, das objet a und das durchkreuzte Subjekt.

Der Preis seines Versuches, konstruktiv Verwirrung zu stiften, ist groß. Er unterminiert literarisch, journalistisch Versuche, politische konkrete Projekte durchzusetzen, zynisiert Trump als Wegbereiter eines größeren linken Emanzipationsprojekts, und dekonstruiert reformerisch eingestellten Diskursen die Sprache und Begrifflichkeiten, indem alles auf einen phallogozentristisches M+ zurückgeführt worden ist.

Wer ihn aber in die Hand nimmt, um den Geist aufzulockern, als Geisteslockerungsübung und -entkrampfung, also nicht argumentativ, diskursiv, sondern poetisch liest, bekommt viel geboten – nur eben keine Antworten.