Bettina Wilpert: “Herumtreiberinnen“

Bettina Wilpert: "Herumtreiberinnen“

Wortkarg und desillusioniert von Leipziger Gewaltwelten

Ausführlicher, vielleicht begründeter: https://kommunikativeslesen.com/2022…

In ihrem neuen Roman, Herumtreiberinnen, ihrem zweiten, spürt Bettina Wilpert einer wildgewordenen Staatsmaschinerie nach. Anhand des Schicksals von drei Frauen: Lilo in den 1940er, Manja in den 1980er, und Robin in den 2010er Jahren zeichnet sie das schwarze Bild von Gesellschaften, in denen jeder gegen jeden kämpft und jedes Mitgefühl verloren gegangen zu sein scheint. Fokalpunkt der Betrachtungsweise ist das Tripperburg-Gebäude in der Lerchenstraße in Leipzig. Hier kreuzen sich, in parallelen Geschichtswelten, die Frauenschicksale, sammeln und verbinden sich der Horror, einer übermächtigen Staatsgewalt ausgeliefert worden zu sein: Lilo als politischer Häftling, Manja als promiskuitive Straftäterin, und Robin als orientierungslos gewordene Sozialarbeiterin.

Wir, in der Lerchenstraße Wir sind verkrustet. Manchmal träumen wir von einem unverbildeten Menschen. Wir suchen ihn in der Lerchenstraße, wir suchen dort in den sechs Gebäuden. Jeweils drei stehen in Reih und Glied zueinander, ein Dampfschornstein auf einem der mittleren. Wir sehen eine Kirche, einen Uhrenturm in der Mitte des Hofes, damit wir die Zeit nicht vergessen, alles ist getaktet und geplant, Ordnung muss sein. Wir sehen ein Pförtnerhäuschen – ein Pförtner ist einer, der den Eingang bewacht, dieser jedoch bewacht den Ausgang.

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Jenny Erpenbeck: “Kairos”

Jenny Erpenbeck: "Kairos"

Trabantenstädte der Tristesse: Freie, sprachgewandte Literatur auf der Höhe der Zeit.

Ausführlicher, vielleicht begründeter: https://kommunikativeslesen.com/2021…

Jenny Erpenbecks Roman „Kairos“ reiht sich thematisch zunächst nahtlos in die typische Gegenwartsliteratur ein. Es handelt vom geteilten Deutschland, vom Leben in der DDR, von den Versuchen einer Vergangenheitsaufarbeitung, von Politik, Liebe und Sadomasochismus, von alter Mann trifft und liebt junge Frau, Braunhemden, Ostalgie und Walter-Ulbricht-Traumata. Überraschenderweise wendet sich das Blatt nach hundert Seiten jedoch. Waren die ersten Kapitel mühsam, karg, langweilig, geradezu nebensächlich, adjektivlos, flach, so beginnt nach etwa hundert Seiten eine Tour de Force der spracherfrischenden Fremd- und Selbsterforschung.

„Etwas beginnt, etwas geht zu Ende – oder erfüllt sich. Aber dazwischen windet die Zeit sich ins Leben hinein, verflicht sich, verwächst sich, ist nur eines nie: gleichgültig, sondern immer gespannt, eingespannt zwischen einem Anfang, den man nicht wahrnimmt, weil man mit dem Leben beschäftigt ist, und einem Endpunkt, der in der Zukunft, also im Dunkel, liegt.“

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Maxim Biller: “Der falsche Gruß”

Maxim Biller: "Der falsche Gruß"

Eine Fabel übers Lügen im literarischen und außerliterarischen Sinne.

Ausführlicher, vielleicht begründeter: https://kommunikativeslesen.com/2021…

Maxim Billers Roman „Der falsche Gruß“ ist kurz – und das ist beinahe alles Gute, was man über ihn sagen kann. Von Anfang an wird klar, dass Biller Thomas Bernhard imitiert, einen auf Botho Strauß macht, mit Michel Houellebecq politischer Inkorrektheit kokettiert und einem Christian Kracht versucht den Rang abzulaufen, was die Geschmacklosigkeit der Metaphern angeht. Vor allem jedoch geht es um die Sexualisierung von Politik, Geschichte, und die Freude daran, alles zu zerreden.

„Ich dachte es immer wieder, in immer neuen, halbwegs klaren, zusammenhängenden Worten und Sätzen, aber es half mir trotzdem nicht, mich besser zu fühlen, und als ich mich endlich ausgeweint hatte, stand ich auf – immer noch steif, verzweifelt und verfroren –, ich legte mir die kratzige tschechische Wolldecke um die Schultern, ich stellte mich wie ein alter, einsamer Mann ans Schlafzimmerfenster und sah raus, in der Hoffnung, draußen etwas Interessantes zu sehen, um so vielleicht auf andere Gedanken zu kommen.“

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