Deniz Ohde: „Ich stelle mich schlafend“

Ich stelle mich schlafend

Atmosphärisch stimmig. Ein Erzählsound, durchgängig aufrechterhalten, der sich den Zwang auferlegt, oberflächlich zu bleiben. Schade.

Deniz Ohdes zweites Buch „Ich stelle mich schlafend“ lässt sich als eine Erweckungsliteratur begreifen, der den Mut zur eigenen Courage fehlt. Mittels Yasemine, der Protagonistin, wird von Schuld, körperlicher Entfremdung, von Übergriffen, Obsessionen und Distanznahmen erzählt:

Aber davon wusste Yasemin noch nichts, daran dachte sie auch nicht, als sie nun, achtzig Jahre später, vor speziellen Spiegeln in ein Verwandtschaftsverhältnis mit dieser Pionierin [der Krankengymnastin] trat und sich auf sich selbst besinnen sollte. Ein Gefühl für ihren Körper entwickeln, den sie bisher mehr als Vehikel gesehen hatte, das man wohl oder übel ab und zu mit Gemüse und Wasser füttern musste, damit es einen durch die Welt trug. An ihren Atem hatte sie schon gar nie gedacht.

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Peter Handke: „Die Ballade des letzten Gastes“

Die Ballade des letzten Gastes

Verschworen-verschwurbelt über den Schmerz. Der letzte Gast, der Tod, verdrängt und doch erkannt.

Peter Handkes „Die Ballade des letzten Gastes“ heißt nicht nur Ballade, sie ist auch eine und kein Roman. Es gibt zwar eine Handlung, einen Plot, der wie immer bei Handke minimalistisch ausfällt, aber die Darstellung, die Erzählweise lässt von Anfang an keinen Zweifel daran aufkommen, dass es nicht um den Plot, sondern um das, was hinter ihm lauert und steht, geht:

„Und wie ich als der letzte Gast an einem wackligen Tisch saß, und den dann noch stärker zum Wackeln brachte, und dazu die verschiedenen Fingerabdrücke auf dem Glas vor mir – je verschiedener, desto besser. Und als das Schulkind, trödelnd auf dem Heimweg, im Gehen den Schulbeutel von der einen auf die beiden Schultern wechselte.“

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Necati Öziri: „Vatermal“

Vatermal von Necati Öziri

Anti-Literatur als Literatur verpackt. Ein Schelmenroman auf Abwegen.

Schreiben dient oft zur Selbstfindung. Tagebuch schreiben, Briefe schreiben, Notizen, kleine Aphorismen und Zusammenfassungen zusammentragen, um dem alltäglichen Chaos, das Auf und Ab, die Gefühlswallungen, Assoziationen einzudämmen, die möglicherweise durchs Bewusstsein branden, und durch Necati Öziris Ich-Erzähler Arda geht eine ganze Menge. Es brennt. Es flammt. Es rumort, kracht und donnert:

„»Was soll ich schreiben?«
»Spielt keine Rolle, Hauptsache halbwegs fehlerfrei, dürfte ja kein Problem sein.«
[…] »Na, dann wollen wir mal sehen: ›Ich werde eure Töchter vögeln bis sie arabisch sprechen. Ich klaue euren Söhnen den Praktikumsplatz, mach sie drogenabhängig und verkaufe ihre Organe auf dem Basar. Ich breche nachts den Stern von euerm Benz und trage ihn an meiner Halbmondkette. Ich will kein Arzt oder Anwalt werden, ich werde Superstar oder arbeitslos.‹ «“

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Dinçer Güçyeter: „Unser Deutschlandmärchen“

Unser Deutschlandmärchen

Eine gerettete Zunge, wild und widerständig, auf der Suche nach sich.

Ausführlicher und vielleicht begründeter auch auf kommunikativeslesen.com

Dass das Fremde ein Allgegenwärtiges sein kann, dass vielleicht das Nächste das Unbekannteste ist, dass im Alltäglichen Schätze ruhen und Mysterien weiterbestehen, davon berichtet Dinçer Güçyeter in seinem Roman „Unser Deutschlandmärchen“, der mit dem Preis der Leipziger Buchmesse 2023 ausgezeichnet worden ist. Er steht im Zusammenhang mit Fatma Aydemirs „Dschinns“ und lässt sich als Gegenentwurf zu Kim de l’Horizons „Blutbuch“ lesen. Wie in Aydemirs Roman geht es um eine türkische Familie, die in Deutschland lebt; wie in „Blutbuch“ geht es um den Versuch, eine ganz eigene Sprache und Selbstbestimmung zu finden. Im Gegensatz zu beiden steht aber ganz klar die Liebe zur Mutter im Vordergrund:

Ich wollte dich verstehen, ich wollte dir näherkommen und fiel dabei immer tiefer in den Brunnen, so tief, dass manchmal kein Lichtstreifen mehr zu sehen war. Dich wollte ich entlasten, nun spüre ich eine Fracht in mir, die unmöglich zu tragen ist. Darüber zu schreiben, versetzt mich in Scham, aber ich muss darüber schreiben, es gibt keinen anderen Ausweg mehr.“

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Bettina Wilpert: “Herumtreiberinnen“

Bettina Wilpert: "Herumtreiberinnen“

Wortkarg und desillusioniert von Leipziger Gewaltwelten

Ausführlicher, vielleicht begründeter: https://kommunikativeslesen.com/2022…

In ihrem neuen Roman, Herumtreiberinnen, ihrem zweiten, spürt Bettina Wilpert einer wildgewordenen Staatsmaschinerie nach. Anhand des Schicksals von drei Frauen: Lilo in den 1940er, Manja in den 1980er, und Robin in den 2010er Jahren zeichnet sie das schwarze Bild von Gesellschaften, in denen jeder gegen jeden kämpft und jedes Mitgefühl verloren gegangen zu sein scheint. Fokalpunkt der Betrachtungsweise ist das Tripperburg-Gebäude in der Lerchenstraße in Leipzig. Hier kreuzen sich, in parallelen Geschichtswelten, die Frauenschicksale, sammeln und verbinden sich der Horror, einer übermächtigen Staatsgewalt ausgeliefert worden zu sein: Lilo als politischer Häftling, Manja als promiskuitive Straftäterin, und Robin als orientierungslos gewordene Sozialarbeiterin.

Wir, in der Lerchenstraße Wir sind verkrustet. Manchmal träumen wir von einem unverbildeten Menschen. Wir suchen ihn in der Lerchenstraße, wir suchen dort in den sechs Gebäuden. Jeweils drei stehen in Reih und Glied zueinander, ein Dampfschornstein auf einem der mittleren. Wir sehen eine Kirche, einen Uhrenturm in der Mitte des Hofes, damit wir die Zeit nicht vergessen, alles ist getaktet und geplant, Ordnung muss sein. Wir sehen ein Pförtnerhäuschen – ein Pförtner ist einer, der den Eingang bewacht, dieser jedoch bewacht den Ausgang.

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Emmanuel Carrère: „Yoga“

Emmanuel Carrère: „Yoga“

Von einer Reise durch das Nichts und anderen Halbwahrheiten.

Ausführlicher, vielleicht begründeter: https://kommunikativeslesen.com/2022…

Emmanuel Carrère verlangt es nach Ruhm und Ehre, sucht Ruhe und Gelassenheit, die innere Entspannung, die ihm zwischen Lust, Rausch, Sex und Alkohol zumeist versagt bleibt. In seinem Roman Yoga bricht er nun eine Lanze für fernöstliche Philosophien, Weisheiten, Gurus und Lebenskünstler und gibt seinem Publikum auch gleich eine Definition von Yoga mit auf dem Weg:

Das ist übrigens auch die ursprüngliche Bedeutung des Worts Yoga: zwei Pferde oder zwei Büffel in dasselbe Joch einspannen. Man wechselt von einem zum anderen, vom anderen zum einen. Wenn man versucht, seine Aufmerksamkeit auf das zu richten, was man tut, und sich bewusst zu machen, wenn auch nur ein winziges bisschen, was das Ziel der Angelegenheit ist, hat man keine Zeit, sich zu langweilen.

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Fernanda Melchor: „Paradais“

Fernanda Melchor: „Paradais“

Von jungen Wilden und ihrer Sprachlosigkeit … intensiver Blick in den Abgrund

Ausführlicher, vielleicht begründeter: https://kommunikativeslesen.com/2022…

Bücher, die im Grunde aus Rhythmus, Sprachfreude und einem bandwurmartigen Formexperiment bestehen, lassen sich nur mit Mühe herkömmlichen Kategorien zuordnen. „Paradais“ von Fernanda Melchor gehört zu diesen Texten und lässt sich, beinahe, in einem Atemzug mit einer Lesezeit von etwa 90 Minuten durchlesen, in etwa einer Spielfilmlänge. Ist es also ein Film als Buch? Ein mexikanischer Coming-of-Age-Roman, ein Splatter-Machwerk, Thriller, eine Quentin Tarantino-Variante, bestehend aus Schimpfwörtern, Obszönitäten, ordinären Tiraden? Oder einfach der Versuch, den Dschungel spätpubertärer Jünglingsallüren mal ungeschönt und unverharmlost, nicht wie in Herman Hesses „Demian“, in Worte zu gießen, der Gefahr der rasenden Ungeduld nackt ins furchterregende Auge zu sehen, um eine Rettung zu erahnen, wie der Ich-Erzähler in Edgar Allan Poes „Hinab in den Malstrom“?

„An einen dicken Ast des Amatebaums gelehnt, schloss er [Polo] die Augen, atmete den matten Duft der Lilien ein, und ohne es zu wollen, doch auch ohne es verhindern zu können, machte er denselben Fehler wie immer, wenn es ihm gut ging, genau denselben: Er wünschte sich, dieser Moment des einsamen Friedens ginge niemals vorüber. Doch, klar, gleich darauf tauchte unweigerlich der verfluchte Dicke [Franco Andrade] am Steg auf, vom Herabsteigen der Holzstufen schnaufend wie ein Nashorn, mit seinem dämlichen Grinsen aus der Zahnpastawerbung und dem gleichen Gelaber wie immer, im Ernst, demselben beschissenen Gefasel, wie er die Señora [Marián Maroños] von vorne und von hinten und von wer weiß wo […]“

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Claudia Durastanti: “Die Fremde”

Claudia Durastanti: "Die Fremde"

Ein Liebesbrief ans Leben von einer Autorin, die mit dem Kopf durch die Wand will.

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Claudia Durastanti, Jahrgang 1984, schreibt mit „Die Fremde“ ein Buch, das sich immer wieder zu lesen lohnen wird. Es platzt nur so vor Einfällen, Anekdoten, Wortspielereien. Durastanti vermischt alles und erlaubt sich alles. Man weiß nie trennscharf, was wirklich geschehen, was hinzuerfunden, was völlig aus der Luft gegriffen ist. Sie begreift die Sprache als Akt der Selbstfindung, das Leben als Abenteuer, die Herkunft als aufhebbares Schicksal und die Verbindlichkeit und das Verhängnis zwischen Liebenden und Gleichgesinnten. Sie schreibt über ihre Eltern, beide taub, über ihren Bruder, ihre Familie, Großeltern in Brooklyn, über ihr Leben in der Basilicata, über Süditalien, über London, was es heißt, arm zu sein, verrückte Eltern zu haben, eine drogenabhängige Kusine zu versorgen, einen anderen mit Haut und Haaren zu lieben.

„Nur wenn ich zu den alten Docks [in London] gehe und zwischen den Lagerhallen der einstigen Schifffahrtsunternehmen herumlaufe, erinnere ich mich, wie es passiert ist: Von hier ging die Ansteckung aus. Die Ansteckung ist eine Geschichte aus dem Osten. Hier legten die Schiffe mit Gewürzen und Tieren aus fernen Ländern an, und der Wunsch nach neuen Dingen wurde zu einer magischen Sucht.“

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Bernardine Evaristo: “Mädchen, Frau etc.”

Eine unpathetische Hymne auf die Vielfalt, oder: die Schnelligkeit des Zeitgeistes ertragen lernen.

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Bernardine Evaristo bietet mit ihrem Roman „Mädchen, Frau etc.“ eine eigenartige und bemerkenswerte Kommunikation an. Ihr Roman handelt von zwölf Frauen, verwoben, fern wie nah, verwandt, über mehrere Ecken befreundet, bekannt mit einer Theatermacherin namens Amma, die über ihren rebellischen Schatten springt und ein Theaterstück namens „Die letzte Amazone von Dahomey“ im National Theatre in London inszeniert. Dieses Theaterstück verbindet all diese Schicksale auf vielfältige Weise, bringt jene zusammen, die sich sonst nie kennenlernen oder über den Weg rennen würden.

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