Bernardine Evaristo: “Mädchen, Frau etc.”

Eine unpathetische Hymne auf die Vielfalt, oder: die Schnelligkeit des Zeitgeistes ertragen lernen.

Ausführlicher, vielleicht begründeter: https://kommunikativeslesen.com/2021…

Bernardine Evaristo bietet mit ihrem Roman „Mädchen, Frau etc.“ eine eigenartige und bemerkenswerte Kommunikation an. Ihr Roman handelt von zwölf Frauen, verwoben, fern wie nah, verwandt, über mehrere Ecken befreundet, bekannt mit einer Theatermacherin namens Amma, die über ihren rebellischen Schatten springt und ein Theaterstück namens „Die letzte Amazone von Dahomey“ im National Theatre in London inszeniert. Dieses Theaterstück verbindet all diese Schicksale auf vielfältige Weise, bringt jene zusammen, die sich sonst nie kennenlernen oder über den Weg rennen würden.

In seiner Weite und Breite verliert der Roman sich stilistisch nie. Evaristos Sprache ist parataktisch, eine hymnenartige Reihung, Staccato, ein langer Brief zum kurzen Abschied, ohne Erklärungen, ohne Konstruktionen, ohne die mindeste Form sprachlich-barocker Witzeleien oder Sprachspielen. Er ist trocken, hart, schnell und erbarmungslos. Stroboskopartig werden in Sekundenschnelle ganze Schicksale abgearbeitet.

„kein Mensch erzählte laut davon, in einer Sozialwohnung innerhalb einer Hochhausanlage aufgewachsen zu sein, bei einer alleinerziehenden Mutter, die als Putzfrau arbeitete
kein Mensch erzählte laut davon, nie auch nur eine einzige Urlaubsreise gemacht zu haben, also, wirklich, nicht eine
kein Mensch erzählte laut davon, nie im Flugzeug gesessen, nie ein Theaterstück oder das Meer gesehen, nie im Restaurant gegessen zu haben, so richtig mit Kellnern
kein Mensch erzählte laut davon, sich zu hässlichdummarmfett zu finden oder einfach nur schlicht fehl am Platz, nicht auf der Höhe, überfordert
kein Mensch erzählte laut davon, mit dreizehneinhalb gruppenvergewaltigt worden zu sein“

Die Zeit, Moden, die Ereignisse peitschen über die Individuen hinweg. Ein rastloses Suchen zwischen einem Gestern und einem leeren Morgen findet statt, in einer Gegenwart, die lediglich die Zukunft von der Vergangenheit trennt, ein Nichts in atemloser Abfolge. Als Stilmittel höhlt die Sprache jeden Moment aus, reiht Satz um Satz aneinander, die in beliebiger Reihenfolge auftauchen und vergessen werden können. Erzählung, also jedwede innere Kosubstantialität der Erinnerung, wird vermieden. Konstruktion auf den Punkt gebracht findet Ruhe und Halt nur noch in der Arithmetik.

Evaristo dekonstruiert noch die widerspenstige Hymne, entkleidet die Elegien und Balladen ihrer schwülstigen Banalität und überheblichen Zeitlosigkeit. Sie hat ein expressionistisches Zeitdokument epischen Ausmaßes geschrieben, das cool der Bedeutungslosigkeit in die Augen sieht. Ich empfehle „Das Leben – Gebrauchsanweisung“ von George Perec, das eine ähnliche Idee verfolgt, wie auch Claude Simon „Jardin des Plantes“ und Dorothy Richardson „Die Schatten der Giebel“, wer surrealistische kollagenartige Impressionen wertzuschätzen weiß. Auch Michel Butor “Die Modifikation” passt.

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