Dinçer Güçyeter: „Unser Deutschlandmärchen“

Unser Deutschlandmärchen

Eine gerettete Zunge, wild und widerständig, auf der Suche nach sich.

Ausführlicher und vielleicht begründeter auch auf kommunikativeslesen.com

Dass das Fremde ein Allgegenwärtiges sein kann, dass vielleicht das Nächste das Unbekannteste ist, dass im Alltäglichen Schätze ruhen und Mysterien weiterbestehen, davon berichtet Dinçer Güçyeter in seinem Roman „Unser Deutschlandmärchen“, der mit dem Preis der Leipziger Buchmesse 2023 ausgezeichnet worden ist. Er steht im Zusammenhang mit Fatma Aydemirs „Dschinns“ und lässt sich als Gegenentwurf zu Kim de l’Horizons „Blutbuch“ lesen. Wie in Aydemirs Roman geht es um eine türkische Familie, die in Deutschland lebt; wie in „Blutbuch“ geht es um den Versuch, eine ganz eigene Sprache und Selbstbestimmung zu finden. Im Gegensatz zu beiden steht aber ganz klar die Liebe zur Mutter im Vordergrund:

Ich wollte dich verstehen, ich wollte dir näherkommen und fiel dabei immer tiefer in den Brunnen, so tief, dass manchmal kein Lichtstreifen mehr zu sehen war. Dich wollte ich entlasten, nun spüre ich eine Fracht in mir, die unmöglich zu tragen ist. Darüber zu schreiben, versetzt mich in Scham, aber ich muss darüber schreiben, es gibt keinen anderen Ausweg mehr.“

Es handelt sich bei „Unser Deutschlandmärchen“ um keinen gewöhnlichen Roman. Güçyeter fährt viele Stilmittel auf. Sein Weg führte von der Dichtung zur Prosa, und dies lässt sich an der freien Gestaltung, Setzung und Rhythmik wie Melodik des Romanes erkennen. Gedichte unterbrechen den Handlungs- oder Reflexionsverlauf. Drehbuchartige Dialogsequenzen lockern die festgefahrenen kommunikativen Verhältnisse. Dazwischen illustrieren Photographien die handelnden, berichtenden Figuren und erhalten so blitzlichthaft intensive Lebendigkeit. Es gibt sie wirklich. Güçyeter inszeniert Authentizität eindrücklich:

Fatma ist mein Name. Ich bin die Tochter von Hanife und von Osman Bey. Ich war erst zehn Jahre alt, da haben wildfremde Männer seine Leiche in den Hof getragen. Ich war das liebste Kind meines Vaters, und er, er war meine Schutzmauer. Er brachte jeden Freitag Forellen mit, jeder bekam eine, ich durfte zwei essen … Dann war er tot.

Die Reise von Fatma von der ländlichen Türkei in die Bundesrepublik Deutschland der Nachkriegszeit beschäftigt ihren Sohn, Dinçer, der ihre Berichte kompiliert. Die Lebensgeschichte wird zu einem Sesam-Öffne-Dich und Sesam-Verschließ-Dich. Er schafft es nicht, ihre Härte und Strenge im Zusammenklang mit ihrer Toleranz und Ergebenheit zu verstehen. Alles spricht gegen sie, aber sie kämpft sich durch, arbeitet ein Leben lang, während ihr Ehemann alles verspielt, vertrinkt, verschenkt. Sie zieht zwei Söhne auf. Dinçer ist einer von ihnen. Er muss sich von ihrer Entsagung und Aufopferung freischreiben, ohne jedoch die Entsagung und Aufopferung, die sie ihr ganzes Leben lang geleistet hat, zu verraten:

Hier ist es so, hier glüht die jahrhundertealte Bescheidenheit des Frauseins, hier wird sie zur Asche, zum Staub. Es kommt der Tag, da erwacht der Drache aus seinem Schlaf, breitet die Flügel aus, sucht nach einem unbewohnten Himmel. Er schöpft neue Geschichten aus seinen wunden Stellen, Geschichten, wie du, wie ich. Nur die Geschichte kann die Wahrheit sein, nur sie kann diesen Eisberg zersprengen. Fatma, ich gehe auf eine neue Reise, in eine andere Gegenwart, pass auf dich auf.“

Dinçer Güçyeters Roman „Unser Deutschlandmärchen“ gehorcht einer ganz eigenwilligen Ästhetik des Widerstandes. Er verurteilt nicht. Er erklärt nicht. Er distanziert nichts und niemanden. Sein Stil kämpft um Individualität, um Singularität. Sein Schreiben gleicht mehr einem Gesang, einem Rezitativ tief hinein in eine hallende, widerspenstige Nacht, gegen Unbill und Ignoranz gewappnet und gewandt. In diesem Sinne vermittelt sich Wut und Angst in literarische Wucht, die über Aydemirs „Dschinns“ hinaus nachhallt. Güçyeters Entwürfe besitzen etwas Wildes, Rohes, Ungekünsteltes, das inmitten von Schmutz, Staub, Blut und Dreck nach Edlem, Wahrem, Beständigem sucht.

Er stellt sich in die Tradition eines Charles Baudelaire aus „Die Blumen des Bösen“ und Octavio Paz „In mir der Baum“, aber auch in die eines James Baldwin aus „Giovannis Zimmer“ und Ralph Ellison aus „Der unsichtbare Mann“, aber mit eigener, ganz unverstellter Pose.

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