Peter Handke: „Die Ballade des letzten Gastes“

Die Ballade des letzten Gastes

Verschworen-verschwurbelt über den Schmerz. Der letzte Gast, der Tod, verdrängt und doch erkannt.

Peter Handkes „Die Ballade des letzten Gastes“ heißt nicht nur Ballade, sie ist auch eine und kein Roman. Es gibt zwar eine Handlung, einen Plot, der wie immer bei Handke minimalistisch ausfällt, aber die Darstellung, die Erzählweise lässt von Anfang an keinen Zweifel daran aufkommen, dass es nicht um den Plot, sondern um das, was hinter ihm lauert und steht, geht:

„Und wie ich als der letzte Gast an einem wackligen Tisch saß, und den dann noch stärker zum Wackeln brachte, und dazu die verschiedenen Fingerabdrücke auf dem Glas vor mir – je verschiedener, desto besser. Und als das Schulkind, trödelnd auf dem Heimweg, im Gehen den Schulbeutel von der einen auf die beiden Schultern wechselte.“

Handke spielt hier auf Wolfgang Borcherts „Nachts schlafen die Ratten noch“ an. Das lässige Schulbeutel Tragen bei Handke, das Schwenken des Korbes bei Borchert, allegorisiert die Erduldung des Schicksals mit Unverdrossenheit. Statt kleinbeizugeben, wird weitergegangen. Statt zu verstummen, wird gesungen. Der Chronist in „Die Ballade des letzten Gastes“ betrauert den Tod seines Bruders und vermag deshalb nicht darüber zu berichten, zu viel steht auf dem Spiel, zu viele Gelegenheiten blieben ungenutzt, also flieht er dem familiären Zusammenhang und schläft lieber unter freiem Himmel:

Und wieder wünschte der Einschlafende sich, es wäre schon Winter, und zwar weltweit, und seinetwegen, warum nicht, in der südlichen Hemisphäre anstelle des Orion das Kreuz des Südens. Und wieder war das ehr als bloß ein Wünschen, es war ein Sichsehnen, und das da, wie fast in der Regel, wenn es sich ins Einschlafen mischte, war ein besonderes und zugleich himmlisch, ja, himmlisch süßes, wenn der Traum darauf auch sofort wegkippte in ein Waldstück, wo am Fuß eines jeden Baums ein Soldat lag. – Tot?“

Wer Die Ballade des letzten Gastes schnell zu lesen sucht, wird verärgert. Wer sich nicht konzentriert, wird entnervt. Wer die verhakelten, manierierten Unsatzbauten nicht melodisch umsetzen möchte, wer nicht in die Übersetzerarbeit hineingleitet und hinter Allegorie und Auslassung, Ellipse und Partizipkomposita das geheime, nicht verlautbare Zentrum zu ahnen versucht, den Tod, das Sterben, den Abschied, der nicht vollzogen werden möchte, die Zeit, die vergeht, fühlt sich möglicherweise sogar hinters Licht geführt. Peter Handke nervt in Die Ballade des letzten Gastes. Er macht es seinem Publikum wirklich und absichtlich so schwer wie möglich:

Nicht zu  vergessen, trotz allem, der Schwung, der ausgegangen ist und weiterhin ausgeht, von den Blättern und Zweigen, die mich im Wald und auch anderswo gestreift und gerempelt haben. Ja, komm, Zeitalter des Verschweigens , her mit dir – und trotzdem war da einiges, was nicht verschwiegen sein wollte.

Homers „Odyssee“ in Verbindung mit Tolstois „Der Tod des Iwan Iljitsch“ in Verbindung mit Elfenbeinturmliteratur, und mit einer den Rücken zur Gegenwart gedrehten Selbstbeweihräucherung schafft es „Die Ballade des letzten Gastes“ dennoch die Trauer eines Verlustes zu transportieren, kommt so nahe ans Schweigen wie Schreiben möglicherweise nur kann, ein Rätsel der Sphinx, das nicht Mensch, das Tod heißt und einen entsprechend zerschmettert zurücklässt.

Wer mit „Die Ballade des letzten Gastes“ durch ist, kann mit Hermann Brochs „Der Tod des Vergil“ direkt weitermachen, dort aber ohne Schnöselalarm, den es bei der Handke-Lektüre wie immer erst einmal zu überwinden gilt.

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