Martin Mosebach: „Krass“

Krass
Krass von Martin Mosebach.

Die Sehnsucht nach dem Besonderen und Singulärem – zerschmettert in der eigenen Unfähigkeit. Den Anti-Bildungsroman zum ornamentalen Abschluss gebracht.

Martin Mosebach, Georg-Büchner-Preisträger von 2007, zeichnet in seinem 2021 erschienen Roman „Krass“ eine Welt des Zerfalls. In apodiktischer Ironie beginnt der Roman im Winter 1988, geht über das Jahr 1989 über jeden Mauerfall und Wiedervereinigungskontext hinweg und landet unversehens wieder im Jahr 2008, ohne einschneidende, die Welt bewegende politische Momente auch nur am Rande zu thematisieren. Das Thema des Buches lässt dies auch nicht zu: Ralph Krass, ein Geschäftsmann, steht über diesen Dingen.

«Die Kraft eines Genies besteht darin, die Realität seinem Willen zu unterwerfen und nach seinem Willen zu formen.» Das sei [so Ralph Krass] bereits an den Ereignissen der Weltgeschichte ablesbar – sie seien nichts anderes als Verlängerungslinien einer Persönlichkeit. Ein Krieg, ein Frieden, eine Eroberung seien vor allem in die Außenwelt projizierte, zu Tatsachen geronnene Charaktereigenschaften, leicht erkennbar bei Alexander, Cäsar, Attila, Napoleon, Hitler, Stalin. «Was diese Männer taten, das waren sie. Männer wie diese schreiten durch die Welt als Rätsel und Fatum und Ausstrahlung einer anonymen Kraft – manchmal haben sie vor sich selber Angst.»

Im ersten Teil des Romans befindet sich Ralph Krass mit seiner Entourage in Neapel, in der Nähe des allbedrohlichen Vesuvs, eingedenk des Schicksals Pompejis. Gerade dort sucht Krass mit Hilfe seines Assistenten Dr. Jüngel nach einer Bleibe, lernt die Lebenskünstlerin Lidewine Schoonemaker kennen und bindet diese mit Geld und Geschenken an sich. Als aber ein Waffengeschäft mit den Ägyptern platzt, zerstreut sich die Entourage in alle Winde. Jüngel, der sich finanziell große Hoffnung durch die Beschäftigung bei Krass, gemacht hat, heiratet, lässt sich scheiden und flieht, finanziell und sozial runiniert nach Frankreich, in die Nähe von Châteauroux, wo der zweite Teil spielt, um seine Wunden zu lecken:

Das Glück wohnt dort, wo ich nicht bin. Ich muß ja nur daran denken, wo ich mich jetzt eine Weile aufhalten darf: in einem schöneren Haus als dem, vor dem ich stehe, aber seine Kälte, die sich mit meiner inneren Abgestorbenheit verbindet, macht es zu einem Grab, selbst wenn ich vom Holzstoß im Garten ein paar Scheite holte und aus dem Kamin Rauch aufsteigen ließe.

Nach einem Autounfall mit dem besoffenen Klosterschuster endet der ausschließlich von Jüngel handelnde Teil, und der Roman kehrt zu Ralph Krass zurück, der mittlerweile, nachdem wiederum ein Waffendeal mit den Ägyptern, genauer mit General Habob, platzt, finanziell und ökonomisch vor dem Aus steht. Nur mit Kleingeld in der Tasche flieht er aus dem Hotel, streift durch Kairo, noch voller Illusionen, aber mit der nagenden Ahnung, dass es mit ihm zu Ende geht:

Wie er da im Dämmer lehnte, Weihrauch einatmend, sich von ihm nährend, war ihm, als spüre er seine Gewalt über die Myriaden Einzelteilchen, aus denen sein Körper sich zusammensetzte. Auch jetzt, in seiner Erschöpfung, übte er diese Herrschaft aus: Die Milliarden pumpten, blähten sich auf, absorbierten seine Gedanken, sonderten feine Flüssigkeiten ab, verzehrten etwas, schieden etwas aus und erneuerten sich. Er ließ sein Herz schlagen, das Blut strömen, und obwohl er gar nicht genau wußte, wo die meisten inneren Organe eigentlich saßen – die Milz? Die Zirbeldrüse? Die Galle? –, wußte er, daß sein Wille sie zur Arbeit antrieb.

„Krass“ von Mosebach dekonstruiert seinen Protagonisten, und mit diesem radikalisiert er eine Kritik an die, die Ralph Krass stützen, ihn benutzen, sich an ihn hängen. „Krass“ liest sich so als exzessive, symbolisch überladende Weltvernichtungsprosa, die in ihrer melodischen, rhythmischen, allegorischen Übertreibung an Gustav Flaubert und seinem Roman „Salammbô“ erinnert. Die Welt gerät ins Hintertreffen. Die Sprache befördert sie ins Jenseits, in ein darbendes Totenreich, wo die Untoten wandeln und sich nicht zu helfen wissen. Aus mit Saus und Braus, Mosebachs wohlfeile Sprache zerfetzt die Ideologie durch eine übertriebene, heilsbringende Erwartungshaltung, die rückhaltlos von allen Seiten enttäuscht wird und doch an Schärfe nicht verliert. Hier, wiewohl ex negativo, schwingt dennoch trotz des stellenweise altbacken-reaktionären Schmollmundes, im Schattenriss die Utopie einer Sprache mit, die gegen den Lebens- und Ausdrucksverlust und -verdruss gelungenen Einspruch erhebt.

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