Anne Weber: „Annette, ein Heldinnenepos“

Annette, ein Heldinnenepos

Ein sprachlich gelungener Etikettenschwindel: Das Heldinnenepos als Flussfahrt mit Huhn aus dem Kuriositätenkabinett.

Anne Weber wählt in „Annette, ein Heldinnenepos“ eine ungewöhnliche Form. Statt eine klassische Biographie über eine promovierte Neurologin, Résistance-Kämpferin und Verfechterin für Frauen- und Menschenrechte zu schreiben, besingt sie das Leben von Anne Beaumanoir in rhythmisch-strukturierten Versen und Absätzen wie anno dazumal Homer Odysseus und Vergil Äneas, nur hier modern-gebrochen und ironisch-konterkariert:

Von ihrem freien Willen
dankt sie ab, jedenfalls so lange, bis sie irgendwann
selbst ein paar willenlose Bauern zu dirigieren hat.
Was ist es eigentlich? Was treibt sie an? Warum hat sie
Ihr eignes Leben, das einzige, das sie nun einmal hat,
von einem Tag zum andern aufgegeben, bevor es richtig
angefangen hat? Weiß sie es selbst? Weiß man es je,
warum man letztlich etwas macht?

Anne Weber wählt in „Annette, ein Heldinnenepos“ die dem Epos angemessene Form der distanzierten, im Nachhinein alles überschauenden Erzählinstanz. Üblicherweise berichtet diese allwissend über einen heilsgeschichtlichen Vorgang, über ein Ziel, die Vorbestimmung einer Heldenfigur, deren Schicksal, Erfolge und Niederlagen bereits vorgezeichnet sind. Weber bricht diese Form radikal, indem sie alles, was ihre Heldin schafft, in Frage stellt und sogar cartoonhaft überzeichnet:

In diesen Abgrund könnte man gut fallen, aber
[Annette] fällt nicht, nein, sie rennt beharrlich weiter,
als wäre unter ihren Füßen Boden; in alter
Zeichentrickmanier wirbeln die Beine unter ihr.

Mit eigentümlicher, an Wilhelm Busch erinnernder Nachsicht beschreibt Weber die Höhen und Tiefen ihrer Figur, die teils als blind, vernunftlos, teils als idealistisch, aber in jedem Fall todesversessen beschrieben wird. Die Erklärung liegt auf der Hand: Annette hat, laut Erzählerin, zu viele André Malraux Romane konsumiert und zieht nun los, wie Don Quijote, als Ritterin der traurigen Gestalt, um für das Gute in der Welt zu kämpfen. Das hierbei viel schief läuft, versteht sich fast von selbst:

»Wenn man mit sechzehn keine starken
Überzeugungen hat« (Zitat Annette), »hat man
gute Chancen, nie welche zu haben« (Zitat
Nichtannette). Vor Toten und Terror und was
aus Revolutionen gewöhnlich sonst noch so wird,
verschließt man die Augen, »man hofft und
rennt los« (in der Überstürzung: Zitanette),
und zwar auf einen Ort zu, den es gar nicht gibt
und auch nie geben wird […]

Gesangstechnisch rhythmisch, locker und flapsig, ja leicht herablassend, doch stets versöhnlich rekapituliert „Annette, ein Heldinnenepos“ die Irrungen und Wirrungen der Anne Beaumanoir. Form und Inhalt bekämpfen sich jede Zeile. Sie liegen im argen Widerstreit. Idealisieren will Anne Weber nicht, verteufeln aber auch nicht, und so kommen nichtssagenden Sätze wie diese heraus:

Sie glaubt nicht an Gott, aber er an sie.
Falls es ihn gibt, so hat er sie gemacht.

Oder:

Stattdessen – das kommt später raus –
begibt sie sich nach Avignon. Warum? Es gibt an diesem Tag
nur einen Zug, der also gleichzeitig der erste und der
letzte ist. Und dieser fährt nach Avignon.

Es ist ziemlich klar, dass, wenn es Gott gibt, er als Schöpfer auch Annette geschaffen hat; und es ist auch klar, dass der einzige Zug, der erste und letzte ist, und wenn dieser auch noch nach Avignon fährt, sie also, so sie den Zug als Transportmittel wählt, ebenfalls nach Avignon reist. Das aufmerksame Lesen entdeckt auf fast jeder Seite mehrere Tautologien und gewollt-humoreske Paradoxien, die im Grunde nur sehr deutlich zeigen, wie fremd Anne Weber in “Annette, ein Heldinnenepos” trotz intensiver Beschäftigung Anne Beaumanoir für sie geblieben ist. Der versprachlichte, fröhliche, mitunter fließend-sprudelnde witzige Gesang verdeckt diesen gravierenden Mangel auf Dauer leider nur äußerst oberflächlich, sodass das Heldinnenepos nachgerade zum Etikettenschwindel gerät und eher dem Kabarett-Kuriositätenkabinett zuzurechnen ist.

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