Charlotte Gneuß: „Gittersee“

Gittersee

Eine lebendige, freche Ich-Erzählerin, die zu ihrer konstruierten Erzählwelt nicht passt.

Der Debütroman Gittersee von Charlotte Gneuß fällt mit der Tür ins Haus, d.h. er beginnt mit seinem Ende und beschäftigt sich auf seinen darauffolgenden Seiten damit, wie es zu dem Motorradunfall gekommen, wer überhaupt ums Leben und wer der Rühle ist, der die Spuren im Wald beseitigt. Bei all dem Unklaren, eines ist klar. Karin liebt Paul, aber liebt Paul Karin?

Ich setzte mich hinter eine Buche, die nur wenige Meter hinter dem Punkt stand, an dem Paul sein Moped gepackt hatte. Du darfst auch nie vergessen, dass du meine kleine Komma bist und dass ich dich über alles liebe, versprich mir das, hatte Paul damals geflüstert.

Paul nämlich hat die Faxen dicke und macht rüber und lässt sein ganzes Leben, insbesondere seinen Bergbauerjob, in Gittersee zurück, um in Düsseldorf Kunst zu studieren. Gneuß‘ Roman spielt 1976, als Wolf Biemann ausgebürgert wurde. Es gibt die Jodelkuh-Lotte von den Puhdys, Tote Oma als Hauptgang, Karins Vater trinkt, Karins Mutter und beste Freundin Marie sind lesbisch, und ja, Paul ist auf und davon und hat Rühle, seinen besten Kumpel und eine ganze Menge Schlamassel mehr für die sechzehnjährige Karin zurückgelassen, die eigentlich Besseres zu tun hat:

Marie kicherte, setzte sich auf und sagte, wir haben übrigens auch Rumkugeln. Also holten wir die Rumkugeln aus dem Schnapsversteck unter der Spüle hervor, und dann teilten wir sie so, dass jede acht Kugeln bekam. Marie glaubte, dass die Kugeln richtig betrunken machen würden. Sie fand betrunken sein irgendwie erwachsen. Im Fernseher wechselte das Bild. Der Arzt war jetzt im Krankenhaus, am Bett einer Oma. Die Oma jammerte. Oh, ich muss sterben. Der Arzt lächelte, streichelte ihre Perücke und sagte, auf keinen Fall, Sie werden bestimmt fünfundachtzig. Die Oma stöhnte, aber ich bin schon neunundachtzig. Ach so, sagte der Arzt und kratzte sich am Kopf.

Streng aus der Ich-Perspektive erzählt, mit vielen Jugendwörter und ineinander übergehenden Gedanken und direkten Dialogen schildert Karin die Probleme, die auf Gittersee seit Pauls Verschwinden lasten. Alles geht zugrunde, irgendwie. Das Loch, das Paul reißt, lässt sich nicht mehr von der Staatssicherheit in der Person eines Wickwalz kitten, der Karin als Inoffizielle Mitarbeiterin akquiriert. Hier beginnen aber die Probleme des Romans. Die Handlung passt nicht zum großen Mundwerk der Protagonistin. Sie ist direkt, unverhohlen, hedonistisch und unbändig. Die Story, die sie erzählt, aber verdruckst, intransparent und verschämt:

Jetzt war es wieder still, doch ich blieb zur Sicherheit noch ein bisschen stehen. Jaja, der Kindheit glückliches Spiel. Wickwalz’ Stimme vermischte sich mit der von Rühle. Der Frost schimmerte auf der Bank. In den Fenstern lagen Weihnachtskugeln, Engel hingen an den Bäumen. Es hätte mir gleich am Bahndamm auffallen müssen.

Das passt nicht. Karin, die sagt, was sie denkt, hätte klar Schiff gemacht und Tacheles gesprochen, im Rückblick, denn im Rückblick ist die Geschichte erzählt, nicht im Präsenz. Hinzukommen ärgerliche gewollte Literaturschulen-Idee wie Rahmenwirkung durch Wiederholung („der Ginster blühte [….] der Ginster blühte“, „es läuft gut mit Paul […] mit Paul läuft’s gut“ etc …) Auf diese Weise wirkt Gittersee wie ein aus den Ufer getretenes Jugendbuch, das durch schlechte Ratgeber, ähnlich wie Bettina Wilperts Herumtreiberinnen, kein empowertes Ulrich Plenzdorf Die neuen Leiden des jungen W., sondern ein problematischer Roman mit Vergangenheitsaufarbeitung werden sollte. Hari Kunzru in Red Pill, oder Jenny Erpenbeck in Kairos haben das Unheimliche der Staatssicherheit überzeugender beschrieben.

Gittersee von Charlotte Gneuß präsentiert eine frische, quirlige sechzehnjährige Karin Köhler, die den Dreck unter ihren Zehen hervorpullt, Stress mit ihren Eltern hat, Sex will und Alkohol genießt. Die konstruierte Fiktionalität rundum das Schicksal des Stasimitarbeiters passt nicht. Karins Stimme klingt lauter durch die Zeilen hindurch und sollte ein weiteres, eigenes Buch bekommen, in welchem sie nun endlich richtig vom Leder ziehen kann, und zwar ohne plottechnischen Maulkorb.

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