Thomas Hettche: „Sinkende Sterne“

Sinkende sterne

Unausgewogener Mischmasch aus Kulturessay, Polemik, Fantastik und Bauernromantik.

Thomas Hettches Roman „Sinkende Sterne” spielt in der Schweiz, dient als Sprachrohr eines mittelalten Junggesellen, eines Hagestolz, der in das Haus seiner Eltern, ins Wallis fährt und dort zwischen den Erinnerungen an die guten alten und schlechten neuen Zeiten herumschwankt, während ihn Krankheit und Enteignung drohen und plagen:

Spinnen hatten ihre Netze in den Türsturz gewebt, zusammengebackener goldgelber Flor aus Lärchennadeln im windstillen Schatten der Schwelle. Ich schloss die Augen. Im Wagen, wusste ich, tickte noch der heiße Motor von der Fahrt herauf, doch er würde leiser werden und kalt und schließlich verstummen, und dann würde es sein, als hätte der Wagen immer schon hier gestanden, auf diesem Parkplatz am Rande des Lärchenwaldes hoch über dem Tal der Rhone.

Was episch, fantastisch anfängt, einen groben, wohlgezimmerten Plot ankündigt, in welchem ein Gebirgstal, abgeschottet durch einen Gesteinssturz, plötzlich nationale Gefühle und Separatismusgedanken hegt, stürzt alsbald als eine verkappte literaturwissenschaftliche Arbeit über Homer und die Odyssee, über Rilke und die Geschichten von Tausendundeiner Nacht und Sindbad ab. Leider, wie so oft, unentschieden, dümpelt der Text zwischen allen Textformen und gereicht sich selbst zur Satire, weil er zu viel will, aber zu wenig bietet:

Mit klopfendem Herzen drehte ich mich um und erschrak. Eine junge Frau trat geschmeidig durch die Glastür des Lettners. Das Klappern ihrer Pantoffeln auf dem Stein. Über ihrer violetten Soutane wehte ein weißes, spitzenbesetztes Rochett, darüber wiederum eine violette Pelerine. Sie trug eine FFP2-Maske in derselben Farbe, golden verziert mit den gekreuzten Schlüsseln Petri, und auf dem kahlgeschorenen Kopf ein Birett, dessen vier Hörner nach allen Seiten stachen. Ich konnte nicht anders, als sie anzustarren, während sie auf mich zukam. Sie war wunderschön und groß, und sie war schwarz.

… und entpuppt sich später als Mann. Mit jähen Diskursfetzen jagt Thomas Hettche durch den Zeitgeist und erinnert in Setting und Klang, nur nicht im Humor, an Christian Krachts Selbstpersiflage Eurotrash. In seinen besten Passagen verarbeitet es Max Frisch Der Mensch erscheint im Holozän, dort, wo ein älterer untrainierter Mensch den Berg hinauf schwankt, atmet, mit rasendem Herzen die Landschaft betrachtet und sich klein und unbedeutend fühlt. In seinen schwachen Passagen wird es wirr wie Martin Mosebachs Das Beben, sobald Hinterzimmer in kleinen Wohnungen zu reinsten Spiegelkabinetten werden und irrste Komplotte zu schmieden erlauben.

Thomas Hettches „Sinkende Sterne“ fängt gut an und endet wirr und unentschieden, will eine Allegorie sein, aber erscheint als Lose-Motiv-Sammlung einer möglichen Romanidee, die sich aber während des Schreibens scheinbar verdünnisiert hat. Trotz seiner vielen guten Worte, seiner oft geschliffenen und fein-austarierten Sprache bietet „Sinkende Sterne“ ein Paradebeispiel dafür, dass gutes Schreiben mehr als nur gute (obgleich heutzutage sogar rar gesäte) Sprachkenntnisse erfordert. Es bedarf vor allem einer Schreibidee, die in Thomas Hettches Roman völlig fehlt. Es bleibt eine Glosse ohne jede Pointe.

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