Jon Fosse: „ Der andere Name“

Der andere Name

Das Bewusstsein im Moment kurz vor seinem Verlöschen, Erzählung ohne Erzählung, oder was bleibt, wenn nichts mehr bleibt. Eine literarische Katharsis.

Eine der Begründungen für die Verleihung des Literaturnobelpreises im Jahr 2023 an Jon Fosse lautet, dass Fosse dieser dem Unsagbaren eine Stimme verleihe. In seinen eigenen Aussagen führt er dies näher aus, nämlich als das Schreiben eines Erzählers, der sich an der Grenze zwischen Leben und Tod befindet:

„[…] bald sind wir dort, denke ich und ich gehe weiter und ich schaue auf den Hund, der sich seinen Weg durch den Schnee bahnt, und er scheint etwas müde geworden zu sein, er keucht schlimm, denn es ist ein kleiner Hund und er hat schon ein paar Jahre auf dem Buckel, also bleibe ich stehen und hebe den Hund auf und dann gehe ich weiter, den Hund auf dem Arm, und ich denke nichts und es schneit immer weiter und kein Mensch ist zu sehen und es schneit immer weiter […]“

Fosses Roman „Der andere Name“ gehört zu jenen Büchern, die fast gar keinen äußerlichen Plot besitzen. Er schrumpft auf das Minimale zusammen. Ein Maler bricht auf, um in der nächst größeren Stadt, Bergen, einkaufen zu gehen, kehrt zurück und begreift, dass er vergessen hat, nach einem Freund, ebenfalls Maler, zu sehen. Er fährt zurück, findet ihn besoffen im Schnee liegen und bringt ihn in eine Notfallstation. Er übernachtet in einem Hotel, findet aber keinen Schlaf, fährt zurück, spricht mit seinem Nachbarn und schläft endlich ein. Zwei Tage in einem punktlosen Monolog voller Erinnerung, Überlagerungen, voller Dialoge, innerer Gespräche, Ängste, Hoffnungen und Bilder voller Trauer:

„[…] man soll auf keinen Fall mit Schwarz malen, denn das sei keine Farbe, sagten sie, aber Schwarz, ja wie sollte ich meine Bilder malen, ohne Schwarz zu benutzen? Nein das begreife ich nicht, denn in der Dunkelheit wohnt Gott, ja Gott ist Dunkelheit, Gottes Dunkelheit, ja dieses Nichts, ja das leuchtet, ja aus Gottes Dunkelheit kommt das Licht, das unsichtbare Licht, denke ich […]“

Was Fosses Erzählweise in „Der andere Name“ auszeichnet, lässt sich als Parallaxenverschiebung beschreiben. Alle Figuren tauchen verspiegelt und gespiegelt auf. Der Ich-Erzähler Asle hat einen Freund namens Asle. Beide haben eine Schwester namens Alida. Der Ich-Erzähler hat eine Affäre mit einer Frau namens Silje, die sich aber als Guro vorstellt, so heißt aber auch die Schwester Åsleiks, sein Nachbar. In dem Spiegelkabinett stehen nur der Nachbar Åsleiks, als bodenstämmiger Seemann, und der Hund Bragi als Fixpunkte. Sie geben dem Ich-Erzähler halt. Alles andere verschwimmt, geht ineinander über, wird unerkennbar identisch, als Grau in Grau:

„[…] da sind auch so viele Graufarben, für die es keinen Namen gibt, und Die Schwester sagt ja und er hält ihre Hand fest, man könnte fast Angst bekommen, dass es so viele Graufarben gibt und so viele Tönungen der anderen Farben, man sagt Blau, einfach nur Blau, aber dann gibt es sicher tausend verschiedene Blaufarben, tausend, mindestens tausend, nein es sind zu viele, man kann sie gar nicht zählen, denkt Asle […]“

Namen reichen nicht aus. Die Individuen, die einzigartigen Erscheinungen lassen sich nicht zählen und nicht erzählen. Eine tiefe Sprachscheu breitet sich durch den Text aus. Nichts darf benannt werden, denn der bloße Versuch nährt die Hoffnung, etwas wie Schmerz, wie Trauer, etwas wie Verlust könnte beschrieben werden. Adjektivlos, fast detaillos gleitet der Text über einen gähnenden schwarzen Abgrund, den Tod, das Ende aller Dinge. Fosses „Der andere Name“ nimmt einen auf diese Reise mit, ein Höllenritt. Alles ist Angst. Alles ist Schmerz, Verlust, und die Sprache vermag nichts. Weder zu trösten noch zu erklären noch einzubetten. Nur die Wiederholung, die Litanei, das Verdrängen der sichtbaren Welt tröstet, das totale Versinken im kosmischen Schwarz, in welchem alles wieder eins wird.

Verwandt mit Samuel Becketts „Der Namenlose“, durchdrungen in Assonanz und Motivik mit Knut Hamuns „Hunger“, schwarz und rauschend wie Elfriede Jelineks „Die Kinder der Toten und Hermann Brochs „Der Tod des Vergil“ und gerahmt von einem Mystizismus eines Meister Eckharts und dessen Predigen umkreist Jon Fosse eine urverdrängte Simplizität: das Bewusstsein und die Antizipation seines Verlöschens und die ungerechtfertige Hoffnung auf ein wie auch immer geartetes Danach.

Kommentar verfassen