Rhea Krčmářová: “Monstrosa”

Rhea Krčmářová: “Monstrosa”

Selbstfindungsoper im Institut für Essstörungen. Eine Opernsängerin haut auf den Putz und wirbelt das Leben der Mitinsassen herum. Eine wortgewandte Rhapsodie.

Rhea Krčmářová schreibt Bücher über Voluminositäten. In „Monstrosa“ lautet die Rahmenhandlung: eine Opernsängerin namens Isabella wird von ihrer weltbekannten Gesangslehrerin vor die Wahl gestellt, sich wegen Essstörungen in Behandlung zu begeben oder ihren Status als Schülerin und somit alle Chancen zu verlieren, sich noch einen Namen als Opernsängerin zu machen. Isabella beißt in den sauren Apfel, vermietet ihr Zimmer unter und weist sich selbst in das Klinikum Gertraudshöhe im Wienerwald ein:

Ich muss meine Spiegelung nicht sehen, angedeutet im Glas der Trenntüren zwischen Krankenstation und Stiegenhaus; in den Überresten des zersplitterten Spiegels im Therapieraum oder im kleinen Rund dessen, was einmal mein Schminkspiegel war. Das Monster bin ich.

Im ziemlich verlassenen Institut findet sie jedoch nur Magersüchtige, die an Anorexie und Bulimie leiden, und die sehr beleibte fröhliche Isabella ob ihrer offenkundigen Essfreude nicht leiden können:

Wir beobachten das Ungeheuer, diskret und voller Unglauben, diese feiste Medusa, deren Anblick uns zu Stein verwandeln könnte, oder noch schlimmer, zu Fett.

In „Monstrosa“ geht es einerseits um die Gruppendynamik, andererseits um die Selbstfindung der Ich-Erzählerin, die in Erzählgegenwart berichtet, während eine Art antikischer Chor ihr immer wieder ins Wort fällt. Isabella erinnert sich, kämpft mit sich, ringt mit ihren und den Dämonen der anderen:

Der Wald ein Dunkel, ein Hasten durch Schneeschichten. Ein Stehenbleiben. Im Innersten eine Leere, im Äußersten eine Kälte, ein Drang, zu verschlingen. Etwas. Alles. Überall. Zähne drücken gegen einen Mund. Aus dem Hungern wächst eine Wut. Kein Denken mehr, nur Suchen. Ein Atmen, ein Riechen. Ein Sich-leiten-Lassen, ein dunkles Sich-Erinnern.

In sehr abwechslungsreichen Passagen werden Innen- und Außenperspektiven, naturalistisches, surrealistisches Erzählen getauscht, miteinander in Beziehung gebracht und durch das Thema Musik zusammengehalten. Hier geht es um die Entwicklung eines lyrischen zu einem dramatischen Sopran, und das Crescendo begleitet den ganzen Text, bis Isabellas Stimme walkürenhaft die Welt zum Erzittern bringt. Da kann sie weder die Gruppendynamik, noch die Corona-Epidemie, noch die Trauer um Freunde und Freundinnen stoppen. Isabella nimmt Schwung und singt los, was das Zeug hergibt.

Krčmářovás „Der Zauberberg“-Miniatur überzeugt als eine Vermittlung von Olga Tokarczuks „Empusion“ mit Elfriede Jelineks „Winterreise“ und Rainold Goetz fetzigen, musikalischen, obgleich viel unausgeglichenerem „Irre“. Rhea Krčmářovás Stil in “Monstrosa” weiß, wohin er will, was er ausdrücken möchte. Die Verve setzt sich um und spendet Lesemut und Lesefreude, ein großes Mehr zum Leben und Ja zum Sein.

Inhalt: 4/5 Sterne (privates Trauma, Widerstand gegen Gruppenzwang)
Form: 4/5 Sterne (einfache Sätze, aber mit Rhythmus, Schwung, Intensität)
Komposition: 5/5 Sterne (antiker Chor, Echtzeiterzählung, Immersion)
Leseerlebnis: 5/5 Sterne (mitreißende, spannende Selbstfindung)

4 Gedanken zu „Rhea Krčmářová: “Monstrosa”“

  1. Gelesen und begeistert. Alexander ich suche ein Wort für diesen Sprachklang der auch in Stanisics Büchern ist.
    Ein wenig, trotz aller Dramatik, als ginge man an der Moldau entlang , mal mit Smetana mal mit Dvorcak.
    Sehr besonderes Buch, bildhaft, aussagekräftig, frei, unangepasst.
    Hab mir sofort das nächste Buch von ihr bestellt.

    1. Ja, stimmt. Das passt gut. Ich werde auch noch mehr von ihr lesen. Das Buch hatte Schwung. Ich muss überlegen, ob ich einen guten Musikvergleich finde. Dvorak passt tatsächlich ziemlich gut. Freut mich, dass es dir gefallen hat. Viele Grüße!!

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