Tomer Dotan-Dreyfus: „Birobidschan“

Birobidschan

Wirr, überladen, sprachlich unterhalb der Schmerzgrenze trotz starken Anfangs und interessanten Settings.

Das zweite Buch der Shortlist des Bloggerpreises „Das Debüt“ lockt mit einem geheimnisvollen Cover, das einen Stahlarbeiter zeigt, der vor einer übergroßen Hebel- oder Pressvorrichtung steht. Selten hat ein Cover weniger mit einem Inhalt zu tun gehabt wie bei Tomer Dotan-Dreyfus‘ Debütroman „Birobidschan“. Dort geht es nicht um Stahlarbeit, um die Verfertigung einer Transsibirischen Eisenbahn, um die Härten und Zumutungen der sowjetischen Industriearbeit. Stattdessen dreht sich alles um Familie, Partnertausch und verschwundene Ehemänner:

Rachel sah ihren Vater [Gregory] nie wieder, aber er sah sie. Ab und zu war er da, im Hintergrund, zwischen Bäumen und Büschen, als würde er in diesem Zeitpunkt in Tunguska, im Wald, im ewigen Hintergrund feststecken. Sogar die Beerdigung von Jakov beobachtete er aus der Ferne. So gern hätte er hingehen und Josephin [Rachels Mutter] noch einmal umarmen wollen. Aber die Distanz … man gewöhnte sich nicht nur an sie, man wurde davon abhängig.

Dotan-Dreyfus betreibt ein ausführliches Versteckspiel um eine magere Handlung, die im wesentlichen von zwei Roadtrip erzählt, dem von 1990, auf welchem Rachels Vater Gregory verschwindet, und den 2007, auf welchem Rachel verschwindet. Beide Roadtrips führen mehr oder weniger in die Nähe von Tunguska, welches samt seines berühmt-berüchtigten Ereignisses aber keinerlei Rolle in dem Roman spielt. Auch das historische Setting Birobidschan wird glattweg ignoriert. So etwas wie Geschichte existiert sowieso nicht:

Ich bin der Erzähler dieser Geschichte. Ich bin der Versuchsleiter. Die Beziehung zwischen einem Erzähler und einer Geschichte ist immer rund: Es gibt ein Innerhalb und ein Außerhalb – aber wer oder was befindet sich in wem oder in was?

Im Eiltempo werden so ziemlich alle aktuellen Debatten per Drag-and-Drop gestreift: Pandemie, Sexismus, Kunst und Politik, Depression, Trauma, Schusswaffenbesitz, Flüchtlingswelle etc … und zwar auf eine Weise, die aus „Birobidschan“ einen kitschbeladenen Wortsalat werden lassen und das historische Setting als Stichwortgeber missbraucht. Philosophische Themen garnieren das Chaos nur oberflächlich. Wer Ordnung in das Chaos bringt, merkt, wie leer das Buch eigentlich ist:

Gregory nickte, obwohl ihn dieser Satz, weit weg von Birobidschan, sogar noch weiter davon zu entfernen schien. Eine frische Sehnsuchtswelle nach seinem Heimatsschtetl brach sich in seinem Herzen wie an einem Wellenbrecher, und als das Wasser sich zurückzog, blieben winzige Salzkörnchen schmerzend zwischen den Felsen seines Herzens.

Was nach guten, narrativ dichten Anfang passiert, lässt sich nur Kabarett oder dadaistische Performance mit hintergründigem Wollustverlangen verstehen. Eine Unzahl an Figuren, die irgendwie miteinander verwandt, verbandelt, sexuell liasoniert sind, werden eingeführt, ohne ihnen Kontur, Persönlichkeit, ohne ihnen Geschichte, ein Gesicht, ja Aussehen, eine Verbindlichkeit zu geben. Zumindest aber haben sie Sex in freier Wildbahn. Der Erzähler interessiert sich schlichtweg nicht für sie und auch nicht für seine Handlung, die symbolträchtig als ein Feuerwerk der Belanglosigkeit in einem Autounfall auf einer Straße Richtung Moskau verpufft.

Wäre nicht die schlechte Sprache, die ungekonnte Grammatik, die fehlverwendeten Adjektive und die vielen, vom Lektorat nicht behobenen Fehler, wäre nicht diese rastlose, sich selbst überholende Konfusion und das aberwitzige Räsonieren über Zeit als Illusion und Einbildung, könnte „Birobidschan“ als Witz à la Ephraim Kishons Kabinettstückchen durchgehen. So aber bleibt auch dieses Hintertürchen versperrt. Tomer Gardis „Eine runde Sache“, das ähnlich Antiliterarisches unternimmt, überzeugt da mehr, insbesondere im aberwitzigen ersten Teil voller Selbstironie und Leichtigkeit, die leider bei „Birobidschan“ vollends abhandenkommt.

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