Sylvie Schenk: „Maman“

Maman

Freundlich, zurückhaltend, selbstkritisch. Autofiktion ohne Dampfhammer.

Trittbrettfahrerin Annie Ernaux‘ à la „Das Ereignis“? Möchtegern-Roman im autofiktionalen Stil wie Julia Schochs „Das Liebespaar des Jahrhunderts“? Familien-Muff wie in Birgit Birnbachers „Wovon wir leben“? Autobiographische Lamentiererei wie in Arno Geigers „Das glückliche Geheimnis“? Es wär ein Leichtes, Sylvie Schenks Roman „Maman“ ob seiner Wellenreiterei zu verreißen – wäre da nicht ihr lakonischer, leichter, sanfter Stil, der einfach den Text zuerst Text sein lässt, vor sich hin dümpelnd, interessant, beschwingt, durchsetzt von der Melancholie, die eigene Mutter bis zuletzt und über ihren Tod hinaus nicht kennengelernt zu haben. Schenk schreibt selbstbewusst. Es ist ihre Geschichte, und sie lässt keinen Zweifel daran zu:

„Cécile stirbt. Die Zeit ist für sie aufgehoben. Lyon, das Krankenhaus, die Rhône, die ganze Welt, alles versinkt in der Dunkelheit. In den letzten Lebenssekunden wird sie wieder zum Kind, rennt die Straße vom Croix-Rousse hinunter und hält an, um zwischen den Pflastersteinen der steilen Straße einen Löwenzahn zu pflücken. Pusteblume. Musik, Akkordeon, Jahrmarkt. Freudenschreie. Ein Karussell. Etwas lacht und weint in ihr. Es flackert das Wort Auge im Nebel der Worte auf: Pusteblume, Kind, Leben, Krieg, Soldat, sie spürt ihr Gesicht zwischen zwei Männerhänden.“

Die Ich-Erzählerin in “Maman” erzählt von ihrer Mutter, von deren Geburt, ihrem Status als Waisenkind, ihren Adoptiveltern, ihrer Heirat im Jahre 1936, vom Weltkrieg, den Schwierigkeiten, ja, möglicherweise den Verwicklungen in der Kollaboration oder im Widerstand, vom Verdacht einer Affäre und der Schwierigkeit, sich zu emanzipieren, wenn sich die ganze Welt gegen einen verschworen hat:

„Renée wird fünf, fünfeinhalb, sie spricht kaum und undeutlich, sieht ihre Umgebung immer weniger klar, nicht mal den Kirschbaum betrachtet sie noch, die Welt versinkt in graue Töne, überall, wohin sie schaut, öffnen und schließen sich schwere dunkle Türen, und jede aufgehende Tür macht das Zimmer noch dunkler, anstatt es zu erhellen, das Öffnen wird ein Zumachen, das sie nicht versprachlichen kann, die Suppe wird glasig und kalt, ihre Augen sind verklebt und tränen andauernd.“

Schenks Roman besitzt eine Pointe, aber vor allem besitzt er einen geschlossenen Stil, einen fugenartigen Gesang, ein Wechsel zwischen personalen Erzählen, Ich-Perspektive und einem Chor-Wir, das sich in den dunklen, unbekannten Stellen der Geschichte von der Mutter der Ich-Erzählerin zu Wort meldet. Dort raunt das Geschichtsecho. Es bringt die Leerstellen zum Schwingen:

Wir singen: »Können sie Kohlköpfe pflanzen? Wir, wir, wir können es.« Cécile hat dauernd Hunger. Sie betrachtet die anderen, fast alle Kinder haben ihren Proviant aufgegessen, nur der blasse, dickere Junge, der immer hustet, kaut noch an seinem Brot und beißt mit seinen schlechten Zähnen winzige Stücke davon ab. Wir nähern uns ihm, zeigen auf das Brot: »Gibst du mir was ab?« Der Junge schaut Cécile lange an, mit blassen Augen, er runzelt die Stirn und eine kleine weiße Narbe gerät in Bewegung, dickflüssiger Schleim fällt auf das Brot.

Anders als bei Annie Ernaux in „Das andere Mädchen“ oder „Das Ereignis“ schwingt bei Sylvie Schenks “Maman” keine Sehnsucht mit, ihrem Elternhaus zu entkommen. Anders als in anderen autofiktionalen Texten hagelt es nicht Schuldzuweisungen und Urteile wie in Anne Rabes „Die Möglichkeit von Glück“. Und vor allem, verglichen mit vielen anderen Familiengeschichten wie Daniela Dröschers „Lügen über meine Mutter“ oder Alois Hotschnig „Der Silberfuchs meiner Mutter“ bleibt die Sprache nicht nur Vehikel, sondern erhält Stimmung, Atmosphäre, gewährt einen Einblick in die disparate, ins Leere laufende, orientierungslose Liebe zur Mutter, die sich nicht zeigen konnte, nicht gezeigt hat, fremd unter Fremden blieb:

„Meine Mutter entgleitet mir. Sie fließt mir davon, eine innere Blutung, ich muss versuchen, sie festzuhalten, sie wiederzufinden. Ja, sie war erdrückt und entrückt. Unsicher. Unwissend. Es gibt Leute mit einem festen Kern, um den herum sind ihnen Fleisch und Geist gewachsen. Und es gibt Leute wie Maman, die eine Art schwebendes, undefiniertes Wesen haben. Wir sind alle vergänglich, sie aber war vergänglicher, fluider, ungreifbar.“

Ein bescheidener, freundlicher, selbstkritischer, zurückhaltender Roman, der die Ambivalenz der Kluft zwischen den Generationen auslotet, ohne mit dem Dampfhammer überzeugen zu wollen. Still, verzweifelt, ein wenig gruselig, wie wenig von einem Menschen übrigbleibt, fortlebt, gegen den sich die Welt verschworen hat und vergleichbar mit Tatjana Gromačas Roman “Die göttlichen Kindchen”, das auch auf einer Longlist 2023 steht, dem Buch des Jahres aus unabhängigen Verlagen.

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