Helga Schubert: “Der heutige Tag”

Der heutige Tag

Autofiktionale Selbstsuche unter Belastung, Liebe und Freiheitswunsch.

Helga Schubert schreibt in „Der heutige Tag“ über das Zusammenleben mit ihrem intensiv pflegebedürftigen Ehemann Derden und spürt den Gefühlswallungen, den Höhen und Tiefen nach, die sich durch diese Situation der einseitigen Abhängigkeit und Aufopferung unweigerlich ergeben. Das Buch steht im kommunikativen Zusammenhang mit André Gorz‘ „Brief an D.“ und Marilyn und Irvin D. Yaloms „Unzertrennlich: Über den Tod und das Leben“, aber auch Simone de Beauvoirs „Zeremonien des Abschieds“ und Martin Walsers „Das Traumbuch“. Der Tod und der Abschied vom Leben, die Begrenztheit der Zeit stehen im Zentrum. Die Zeit erhält ein ganz anderes Gewicht:

„Etwas wollen und fürchten.
Mitleid und Gesättigtsein vom Samariterleben.
Schlechtes Gewissen, wenn ich an mich denke.
Und Selbstbehauptung.
Gar nicht der Wunsch, aber doch das befreite Gefühl, schon beim Gedanken, dass eine Zeit kommen könnte, in der ich über mein Leben verfügen kann.“

Zwischen der Ich-Erzählerin und ihrem Ehemann besteht ein Altersunterschied von dreizehn Jahren. Es ist für beide die zweite Ehe, die sie zum Zeitpunkt der Erzählung vor 47 Jahren begonnen haben, als die Ich-Erzählerin 34 Jahre alt gewesen ist und es satt gehabt hat, nur von der Ehefrau geduldete Geliebte Derdens zu sein. Beide haben Kinder aus der ersten Ehe. Derdens Kinder jedoch wollen sich nicht um ihren pflegebedürftigen Vater kümmern. Die Ich-Erzählerin steht ganz allein da:

„Für Derdens Kinder, verstand ich in diesem Moment, bin ich die Geliebte ihres Vaters seit Jahrzehnten und nicht ihre Mutter seit der Geburt. Und sie sind nicht meine Kinder, sondern sein Fleisch und Blut. Für sie ist alles freiwillig, die Besuche, die Telefonanrufe. Eben Quittengelee. Und darum ist mir, als ob ich von einem Fluch der falschen Harmonie erlöst wäre. Der Falschheit.“

Die Ich-Erzählerin reflektiert über alle Facetten ihrer häuslichen Situation, der Wunsch für ihren geliebten Ehemann da zu sein, aber auch das Sehnen nach Freiheit, über die eigene Zeit, zumindest teilweise, verfügen zu können. Sie möchte nicht viel, aber auch das Wenige, ein paar Stunden, höchstens ein, zwei Tage für eine Lesung, für einen Besuch, bekommt sie nicht. Schuldgefühle für all die Gedanken und Wünsche nach einem Mindestmaß an Autonomie ist ihr ständiger Begleiter. Eine Erleichterung findet sie darin, sich ihren eigenen Tod zu imaginieren:

“Es ist so ein erschreckend kleiner Unterschied. Wenn man die Kontrolle über sich ein wenig lockert, kann man schon tot sein. Nur die dünne Trennwand zwischen Vorstellung und wirklicher Handlung einmal umwehen lassen, und du bist tot.
Auf das Fensterbrett des Hochhauses steigen und in der Sonne mit ausgebreiteten Armen nach unten fliegen oder neben einem Autostrom laufen und sich plötzlich in ihn stürzen oder das elektrische Kabel berühren. Dieser Sekundenbruchteil Hingabe an das Unbekannte, den Rausch, den Schmerz, einmal nur der eigene Körper sein, ganz und gar. Dieses Loslassen von allem, auch von den Kindern, Barbara!”

Helga Schubert geht in „Der heutige Tag“ schonungslos auf Selbstsuche. Sie durchschreitet ihre Gefühle kraft einer schwebenden, über den Dingen sich zerstäubenden Sprache, eine eigentümliche Art Zwischenzustand des Erzählens, des Träumens, des Sehnens, der sich stilistisch darin äußert, dass sie um das Leiden, die Schmerzen ihres Mannes als dem Zentrum ihres Lebens und um die eigenen herumschreibt, sie nur streift, nur Andeutungen, kurze Reminiszenzen gibt, die die Kontinuität betonen und gegen die Vergesslichkeit, die aus der Demenz folgende Disparität der Gedankenwelt Derdens aufbegehren.

Schuberts Sprache verliert nicht die Sanftheit und Hoffnung auf eine bessere, friedlichere Welt. Wie „Vom Aufstehen“ legt sie auch in „Der heutige Tag“ davon beredtes Zeugnis ab, leider ohne, bis auf wenige kurze Stellen, der Imagination und daher auch mal der Utopie, die es noch in „Vom Aufstehen“ gab, freie Bahn zu lassen und das Persönlich-Private gänzlich zu transzendieren.

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