Benjamin von Stuckrad-Barre: „Noch wach?“

Noch wach

Außer Spesen nichts gewesen. Ein didaktischer Hip-Hop-Roman.

Ausführlicher, vielleicht begründeter: https://kommunikativeslesen.com/2023/…

Stuckrad-Barres Titel von seinem neuen Roman „Noch wach?“ versteht sich nach dem Lesen als mehrdimensionales, in sich verspiegeltes Versteckspiel. „Noch wach?“ bezieht sich auf den englischen Begriff „woke“, aber auch auf die Kurznachrichten eines Chefredakteurs, die er seinen Mitarbeiterinnen tief in der Nacht schickt in der Hoffnung, dass sich noch ein Treffen zwischen ihnen ergibt. In äußerster Verdichtung mischen sich kommunikative Formen der Läuterungs- und Nötigungsversuche der Moderne. Stuckrad-Barres Text stellt die Frage, ob sich das Publikum diesseits oder jenseits von „woke“, diesseits oder jenseits von #MeToo, diesseits oder jenseits von sexueller Belästigung und Machtmissbrauch befindet:

Arbeitsrechtlich ist das ein scheiß Minenfeld. Aber ich meine, ganz unter uns gesagt: Was willst du von dem Drecksblatt auch anderes erwarten? Mein Freund schaute angewidert und bat mich, ihm abermals den Post des früheren BILD-Chefredakteurs zu zeigen, das frühmorgendliche Foto vom See, samt der irgendwie spät(sehr spät)pubertär-stolzen Meldung, dass er NOCH wach sei.

Der Plot wird aus der Sicht eines zwischen Hollywood und Berlin hin und her pendelnden Schriftstellers erzählt. Mal liegt er wie ein Honigkuchenpferd in Los Angeles Smartphone wischend am Pool. Mal stapft er wie ein begossener Pudel mit kreisenden Gedanken durch das regennassverschneite winterliche Berlin. Schlau wird er aus dem ganzen nicht. Als enger Freund des Chefs des Chefredakteurs gerät er als Vertrauensmann der Mitarbeiterinnen zwischen die Räder. Ob die Freundschaft zwischen dem Chef und ihm hält, darin besteht die Handlung.

“Aber einen Rat geben, das schon, natürlich. Das tat er umgekehrt ja auch oft. Seit wir Freunde waren, taten wir das, einander beraten, in egalwelchen Angelegenheiten, und Freunde waren wir schon viele Jahre lang. Plötzlich hatte ich eine komische Überblendung im Kopf, das war jetzt entweder ein Schlaganfall oder – ah, nein, es war die Vergangenheit. […] Szenen einer Freundschaft, nein, Freundschaft fasste es nicht, es waren – Szenen einer Liebe.

Durch das wiederholende „mein Freund“ verdichtet sich die Erzählung und bekommt dadurch eine gewisse Emphase und Dringlichkeit. Eine Freundschaft steht hier auf dem Spiel wie nicht selten durch eine heraufziehende Entscheidung zwischen Privatleben und Beruf, denn der vom Freund des Ich-Erzählers geschützte Chefredakteur vermischt diese, indem er seine weiblichen Angestellten verführt, sexuell belästigt, ausnutzt, nötigt und dann für die nächste fallen lässt.

Was sich auf dem ersten Blick wie ein Michael Crichton oder John Grisham Roman ausnimmt, ist es auf dem zweiten ganz und gar nicht. Stuckrad-Barre schwadroniert. Er komponiert einen Neologismus an den anderen, spielt mit Andeutungen, Unwissenheiten, mit Name-Dropping und Kalauern. Auf diese Weise gelingt ihm, was zu einem Plot, einer Narration zu verkommen droht, zu unterlaufen und in eine Art Hip-Hop-Sprech zu verwandeln, also einen Roman zu schreiben, der keiner sein will, ein Text, der eher wie das Rezitativ einer etwas zu lang geratenen Zeugenaussage erscheint:

Kampagne, yo, Alder, stabile PROJEKTION. Geil auch, wie unterwürfig der plötzlich wird, wenn er Schiss hat. Ich glaube, der macht das jetzt echt. Und wir können den anderen diesen Zaubersatz sagen, der eigentlich immer funktioniert in dem fucking Turm: DAS KOMMT VON GANZ OBEN. Hehe. Wirklich nicht so schlecht, dein geiler Trick da vorhin. Dann lass mal jetzt die BELASTUNGSZEUGINNEN aufteilen. Das Wort hast du übrigens schon wieder nicht benutzt, ich sag’s nur.

Das hilflose Rudern zwischen Denglisch und Engleutsch greift oft ins Leere. Der Ich-Erzähler verliert die Übersicht. Ein paar geschickte Konstruktionen überraschen hier und da, aber was nützen die besten Gewürze, wenn das Hauptgericht auf sich warten lässt. „Noch wach?“ von Stuckrad-Barre gleicht ein wenig dem Warten auf den Weihnachtsmann, nur dass am nächsten Morgen, wenn die Augen schließlich doch zugefallen sind, nicht mal Geschenke unter dem Weihnachtsbaum liegen. Außer schmissigen Wortkaskaden nichts gewesen. Wer jedoch Poetry-Slam über Klatsch und Tratsch der Berliner Republik mag, wer zitierfähigen Hip-Hop-Text à la Die Fantastischen Vier über Hunderte Seiten lesen will und keine, teilweise schmerzhaft langen Determinativkomposita scheut, der wird seine Freude haben. Aus „Girl, you are not in Kansas anymore” wird dann halt „Now, it’s just dust in the wind.“

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