Ariane Koch: “Die Aufdrängung”

Ariane Koch: "Die Aufdrängung"

Eine Parabel über die Entfremdung vom eigenen Fremden.

Ausführlicher, vielleicht begründeter: https://kommunikativeslesen.com/2021…

Die Erzählung, oder der sehr kurze Debüt-Roman, „Die Aufdrängung“ von Ariane Koch behandelt das Gespenstische im Nahen, das Fremde im Bekannten, das Zu-Gast-Sein im eigenen Zuhause. Sie bekam für diesen Text, der sich schwer als Roman, aber noch weniger als Erzählung beschreiben lässt, den „aspekte“-Literaturpreis 2021 zugesprochen, der auf der Frankfurter Buchmesse verliehen wurde. Er arbeitet sich am Erwachsen-Werden, am Aufwachen, Sich-Loslösen ab. Er ist also ein coming-of-age-Roman, nur einer der absonderlichsten Sorte.

„Manchmal denke ich, ich sollte nicht mehr vom Weggehen sprechen, weil ich schon zu viel vom Weggehen gesprochen habe. Ich spreche jeden Tag vom Weggehen und werde nie müde davon. Ich frage mich, ob man nur irgendwo bleiben kann, indem man ständig vom Weggehen spricht. Wer nämlich nur vom Bleiben spricht, der ist doch innerlich schon längst weggegangen, oder?“

Das Zitat zeigt bereits ein Charakteristikum des Textes. Er handelt von einem inneren Monolog einer Ich-Erzählerin, die sich in Ellipsen und Selbstbefragungen mit ihrem Heimatdorf auseinandersetzt. Sie kennt alle. Sie kennt die Landschaft. Sie kennt das Licht, das sich vom Hang herab ins Tal wirft. Was sie nicht kennt, ist die große weite Welt, ist die Umgebung, die ein neues Licht auf die Kleinstadt werfen würde, dem sie sich zugehörig, in dem sie sich aber auch fehl am Platze fühlt, von dem sie abzureisen versucht, ohne aber die innere Kraft zu finden, ihren Plan auch in die Tat umzusetzen.

„Ich stellte mir vor, dass die Kleinstadt immer kleiner würde, auf einen winzigen Punkt zusammenschrumpfen, nur ich bliebe groß, so dass ich keinen Platz mehr darin fände. Dann fiel mir ein, dass dies bereits der Fall war.“

Der Roman beginnt also zu einem Zeitpunkt, als die innere Welt der Protagonistin über die Dorfgrenzen hinausgewachsen sind. Anstoß, alles in Frage zu stellen, wird ein Gast, ein Fremder, dem die Protagonistin ein Obdach gibt. Das Zusammenleben erweist sich als problematisch. Welten stoßen aufeinander. Verständigungsschwierigkeiten erwachsen. Besitzansprüche werden verlautbar. Die Welt gerät aus den Fugen. Alles dreht sich. Chaos zieht in das staubige, verlassene Haus der Protagonistin ein, in welchem sie ihre Kindheit erlebt hat, aus dem aber alle bis auf sie ausgezogen sind, auch ihre Eltern.

„Seit des Gastes Ankunft sind die Menschen unmutig und die Häuser klein, und durch die Fenster zieht der Wind. Man drückt alle Extremitäten an den Heizkörper und nippt an einem Tee, die Zitronenhäutchen schweben wie Quallen durch die Tasse.“

Nichts mehr ist, wie es war. Der Alltag läuft aus dem Ruder. Das Bier in der Lieblingskneipe reicht nicht mehr. Gutgemeinte Ratschläge laufen ins Leere. Ein sehr surrealistisch-anmutendes Handlungsgemenge folgt. Momentaufnahmen, kurze Bemerkungen, Phrasen neben verdichtenden Beschreibungen, Rhythmuswechseln und Deutungsverschiebungen illustrieren den langsamen Erkenntnisprozess der Erzählerin, dass Gewohnheit noch lange kein Verstehen bedeutet, dass Fremdheit auch im Bekannten und nicht nur im Unbekannten zu finden ist, dass jede Ordnung auch Chaos erzeugt, die Welt also komplex und nicht einfach ist und die Eltern selbstverständlich nicht alle Antworten parat haben.

„Ich schließe meine Rede ab, indem ich kundtue, dass ich auf dem Weg zu meinen Eltern sei, welche mir die Kleinheit doziert und sich anschließend vom Acker gemacht hätten.“

„Die Aufdrängung“ steht in einem engen Zusammenhang mit Romanen wie „Der Fänger im Roggen“ von J.D. Salinger oder Texten wie Franz Kafkas „Die Verwandlung“. Ihr Stil erinnert an Ingomar von Kieseritzky, bspw. in seinem Roman „Das Buch der Desaster“ und bleibt auf den Spuren von Henri Michaux‘ „Ein Barbar auf Reisen“ und André Breton in „L’amour fou“. Ariane Koch gibt keine Antworten. Sie stellt vielmehr ein Koordinatensystem, eine Elegie emotionaler Begrifflichkeit zur Verfügung, anhand derer sich vieles, was momentan passiert, dechiffrieren lässt, ohne Öl ins Feuer zu gießen und zur Eskalation beizutragen. Irgendwann bringt die Protagonistin es selbst auf den Punkt:

„Das Erwachen macht keinen Spaß.“

Ihren Roman zu lesen aber schon.

5 Gedanken zu „Ariane Koch: “Die Aufdrängung”“

    1. “Verwegen” ist genau das richtige Wort. Das trifft es. Da sie sich einen Weg aus der Verwirrung sucht, zwischen allen Stühlen sitzt, und doch wunderbar erzählerlisch ihren eigenen Weg geht. Schönes Wort 🙂 Ich habe es mir übrigens auch noch mal gekauft (hatte es nur auf dem Kindle).

  1. Deine Rezensionen lese ich wirklich sehr sehr gern. Sie haben etwas Besonderes, etwas was mich bisher bei jedem Lesen in gespannte Aufmerksamkeit versetzt.
    Die Aufdrängung werde ich, ebenso wie Marina Büttner, mir zu Weihnachten schenken. Vielen Dank .

    1. Vielen Dank! Ich versuche mich auf die Bücher voll einzulassen. Gelingt nicht immer, aber bei Ariane Kochs Roman fand ich das Zwischen-und-über-die-Zeilen hinaus kommunizieren leicht. Der ganze Blog ist nur der Versuch, mich der Gegenwartsliteratur endlich wirklich zu öffnen und mich nicht nur immer hinter Virginia Woolf, Hermann Broch, Friedrich Hölderlin, Emily Dickinson und Marcel Proust etc zu verstecken 😀 “Die Aufdrängung” lohnt sich. Vielleicht mein Buch des Jahres (zusammen mit “Klara und die Sonne”, das mich zu Tränen rührte). Es lohnt sich. Ich werde es auch noch ein zweites Mal lesen. Herzliche Adventsgrüße.

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