Caroline Wahl: „22 Bahnen“

22 Bahnen

Von Träumen, Wünschen und anderen, berührenden, Teenager-Ängsten und -Schmachten.

Ausführlicher und vielleicht begründeter auch auf kommunikativeslesen.com

Ums Schwimmen oder den Schwimmsport geht es in „22 Bahnen“ von Caroline Wahl nicht wirklich, genauso wenig wie in Annika Büsings „Nordstadt“. Sie spielen lediglich teilweise im Schwimmbad. Es geht vielmehr wie in Büsings Debütroman ums Arm-Sein, um die Schwierigkeiten einer Eltern-Kind-Beziehung und die Liebe, die Beziehung, die ein Ausweg aus der aufoktroyierten Isoliertheit und den desaströsen Lebensumständen bietet:

Abends liege ich auf meiner Matratze, der Herbstwind fällt auf mich, ich denke an das Hochhaus, an den Ausblick vom Hochhausdach, an den hellblau-rosa und dann knallpinken Himmel, an die sich vereinenden, in den Süden ziehenden Vogelschwärme, an Mufasa und Simba, an Viktor, an seinen Kuss, und ich überlege, wie der Wind am Meer riecht. Salzig. Und nach Algen. Sand fliegt mir in die Augen.“

Caroline Wahl aus: “22 Bahnen”

Tilda Schmitt hat eine alkoholsüchtige Mutter und eine jüngere Schwester namens Ida. Im Gegensatz zu den meisten in ihrem Freundeskreis lebt sie immer noch in der Kleinstadt, ist nicht in die große weite Welt hinausgezogen. Sie kümmert sich um ihre kleine Schwester und die desolate Mutter, die den ganzen Tag besoffen auf dem Sofa hängt, sofern sie nicht Besserung gelobt, um im nächsten Moment doch wieder auszurasten und mit Dingen nach ihren beiden Töchtern zu schmeißen. Tilda sorgt sich um ihre Schwester und zögert, das Angebot ihres Mathematik-Professors anzunehmen, der sie für eine Promotionsstelle in Berlin vorzuschlagen gedenkt. „22 Bahnen“ schildert diese emotionale Berg-und-Tal-Fahrt, die über die Niederungen und Höhen des Verantwortungsbewusstseins, der Liebe zur Schwester, zu den eigenen Wünschen nach Freiheit und einer mysteriösen Liebesbekanntschaft führt:

Ida: Warum weinst du, Tilda? Ida steht vor mir und nimmt meine Hand. Ich bin immer noch in ihrem Zimmer. Ich: Ich weine nicht. Ich schaue zu Ida hinunter, wie sie in meinem pastelllilafarbenen Nike-Kapuzenpullover zu mir heraufschaut und nicht weiß, was sie sagen soll. Sie öffnet und schließt ihren Mund und hat eine kleine Falte zwischen den Augenbrauen, die sie immer hat, wenn sie nachdenkt. Ida: Ich weine auch nicht. Und es sind Momente wie diese, in denen ich begreife, dass ich gar nichts bereue und auch mit niemandem tauschen will. Ich lache laut, und Ida lächelt, weil sie sich freut, dass ich nicht mehr weine, dabei weine ich immer noch, aber ich lache auch laut, weil ich Ida habe und Ida mich hat.

In denkbar einfachster Sprache und Stil berichtet Caroline Wahl von den inneren Kämpfen ihrer Protagonistin. Hin und her geworfen, ein Energiebündel und doch auch ein Trauerklos, kämpft sie sich durch, und zwar erfolgreich. Ida gewinnt an Selbstbewusstsein. Tilda überwindet ihre Fluchtimpulse in Bezug auf Liebe und Liebesbeziehung, und am Ende …

Literarisches Raffinement lässt sich in „22 Bahnen“ also nicht finden. Es gibt keine Poesie. Es gibt härteste, nüchternste Sachlichkeit einer Sprache, die nicht die eigene ist. Tilda bleibt sich und der Welt entfremdet. Sie steht noch ganz am Anfang, wenn sie tanzt, wenn sie flucht, wenn sie schreit und herumrennt, aber sie bewegt sich, sie versucht es, sie strebt danach, einen eigenen Weg zu gehen, und hier und da gelingt dies selbst sprachlich:

Die Wut zerreißt mich, wenn ich sie nicht rauslasse. Also renne ich. Ich renne, so schnell ich kann. Obwohl ich überhaupt keine Energie intus habe, sprinte ich die Fröhlichstraße hinauf zum Waldeingang. Ich bemerke die Energielosigkeit nicht mehr. Da ist nur Wut. Tränen und Schweiß brennen in den Augen. In dem Moment, in dem mich das Grün des Waldwegs voll umfängt, spüre ich, wie ein wenig von der schweren Wut von mir ablässt. Ich sprinte den Waldweg hoch. Ein entgegenkommender Mann zeigt mir grinsend Daumen hoch, ich zeige ihm meinen Mittelfinger. Meine Lungen brennen.“

22 Bahnen“ lässt sich am ehesten als ein Teenager-Liebesroman-Krisenbuch beschreiben, vergleichbar mit einem Benedict Wells aus “Hard Land“. In Caroline Wahls Roman dreht sich alles um die Handlung, um den Plot, um die kleinen und großen Katastrophen, die kleinen und großen Ängste. Es liest sich schnell und flüssig und besitzt einige intensive, dichte Stellen, die die Figuren lebendig werden lassen. Dass es sich größtenteils um Klischees handelt, stört dann schon nicht mehr. Wie ein Robert Seethaler in „Das Café ohne Namen“, wie eine Susanne Abel in ihrer Gretchen-Saga, wie all die Wunschtraumbücher, so auch Caroline Wahl in „22 Bahnen“, sie erschreiben sich eine schöne, bessere Welt in einfacher, herzzerreißender Sprache, die dennoch irgendwie, hier und da, unter die Haut geht, und sei’s als Klischee, das, obwohl erkannt, trotzdem wirkt.  

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