Maria Borrély: „Mistral“

Mistral

Geheimnisvolle und tragische Naturprosa voller Intensität

Ausführlicher und vielleicht begründeter auch auf kommunikativeslesen.com

Maria Borrélys Roman „Mistral“ erschien zum ersten Mal 1930 bei Gallimard. André Gide, der spätere Literaturnobelpreisträger von 1947, empfahl es in höchsten Tönen. Es ward dennoch vergessen. Erst 2006 wurde es wieder aufgelegt, und 2022 von Amelie Thoma zum ersten Mal ins Deutsche übersetzt, aus zunächst keinem anderen Grund als den, dass die Übersetzerin häufig dort ihren Urlaub verbringt, wo der Roman spielt, Puimoisson, auf halbem Wege zwischen Marseille und Nizza Richtung Grenoble gelegen.

Die Sonne umschließt einen ganzen Mandelbaum. Als die große Kugel hinabgeglitten ist, steht der Himmel noch immer in Flammen. Hügel und Wolken verschmelzen, sehen aus wie das Meer. Denn sie kennt das Meer, wo weiße Schaumperlen über die Wellen rennen und springen. Sie hat es in Marseille gesehen, bei der Hochzeit von Cousine Thérèse. Sie erinnert sich an weiße Boote mit blitzenden Kupferbeschlägen, Vorhängen aus heller Seide, glänzenden Lederdivanen …

Borrély schafft es mit wenigen Worten sofort ganze Szenerien zu gestalten, Charaktere einzuführen, ein Dorf zum Leben zu erwecken. Ihre Prosa verdichtet synästhetische Momente. Sie springt in der Beschreibungsintensität vom Kleinsten zum Größten, von Grillen und Käfern zu Sonnen, Wolken und Winden. Alles findet zugleich statt, erhält selbige Aufmerksamkeit, das Holzscheit im Ofen, das Gluckern der Brunnen, das Zirpen, Zwitschern, aber auch die Ängste und Hoffnungen der Eltern und Freunde von Marie, der Protagonistin des Romans:

Wie gut, dass [Norine] die Marie hat, die ihre rechte Hand ist und keine Arbeit scheut. Und die sich, egal worum es geht, nicht zu schade ist. Ebenso geschickt und flink beim Nähen wie beim Einweichen der großen Wäschestücke, beim Hühnerstallausmisten oder Versorgen der lammenden Mutterschafe.

In ihrer Naturprosa stark an Adalbert Stifter aus „Bergkristall“ erinnernd, in ihrer Sanftheit zu einer Hermann Hesse Erzählstimmung wie in „Narziss und Goldmund“ neigend, aber im Gegensatz zu diesen sich eines knappen, geheimnisvollen Symbolismus wie Robert Musil in „Drei Frauen“ bedienend, findet Borrély eine sehr eigenartige Mischung aus Strenge und Zartheit. Ihre Sprache wächst, wuchert, stoppt, hält inne, schreitet voran und verwischt, erlöscht wie die Jahreszeiten, die sie beschreibt:

Diese Ferne zieht [Marie] an, löst sie von der grausamen Welt. Sie spürt die Erschöpfung des Viehs, das über endlose Straßen trottet, ermattet von Staub und Sonne, bereit, umzusinken. Die legenden Wolken sprechen ihre eigene Sprache, unhörbar, aber überzeugend: Alles, was aufrecht und prachtvoll ist, die Wand die der Maurer singend errichtet, der Baum, der sich dem Wind entgegenstellt, der stolze Mensch, der kahle Granitschädel des Hügels, alles fällt zu guter Letzt, die Wand, der Fels, der Baum, der Mensch.

Wer nur ein wenig Literatur mag, Sprachtrunkenheit, Sprachfreude, Lyrismus und Naturbeschreibungen folgen will, sich in der Schönheit einer verdichteten Sagen- und Märchenwelt verlieren möchte, kurzum Literarizität in Reinstform zu schätzen weiß, ohne Thesen, Erklärungen, Positionen, Meinungen, der wird in Maria Borrélys Kurzroman „Mistral“ fündig werden. Ihre Sprache klingt nach. Die verwobenen Handlungsstränge des Romans verdichten sich zunehmend. In ihm ballt sich die ganze Essenz eines gelungenen, geglückten Schreibens und darauffolgenden Lesens und Verstehens.

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