Terézia Mora: „Das Ungeheuer“

Das Ungeheuer

… eine ästhetisch-literarische intensive Widerstandserklärung.

Ingeborg Bachmann Preisträgerin von 1999 und Georg-Büchner Preisträgerin von 2018 erzählt in ihrem Roman „Das Ungeheuer“, mit dem sie den Deutschen Buchpreis 2013 gewonnen hat, von zwei Reisen: Floras Reise durch die Melancholie und Hoffnungslosigkeit, die im Selbstmord endet; und Darius‘ Reise, durch Südosteuropa, die in einer Straßenschlacht in Athen endet. Darius kommt mit seinem Leben davon. Flora jedoch hat knapp zwei Jahre vor dem Ende von Darius Reise, ihrer gemeinsamen Ehe und Leben, ein Ende gesetzt. Sie erhängte sich in einem abgelegenen Wald. Darius erzählt:

„Meine Frau war 37 Jahre alt, als sie beschloss, nicht mehr wertbar zu sein. Ich bin 46 und — gegenwärtig, so sagt man es doch wohl korrekterweise: gegenwärtig — ebenfalls nicht wertbar. Außer, dass ich noch lebe.“

Darius arbeitet als IT-Experte, trinkt, isst gerne und viel, treibt keinen Sport und weist bereits schütteres Haar auf. Er kann nicht alleine sein. Es dürstet ihn nach weiblicher Gesellschaft. Flora schlägt sich durch die Nachwendezeit mehr schlecht als recht durch. Ihr Studium bleibt unabgeschlossen, ihre Praktika unerfolgreich. Sie wird beleidigt, verachtet, verlacht, sexuell benutzt, aber will sich nicht geschlagen geben. Sie will überleben, einen modus vivendi finden, aber ihre Armut treibt sie zu Verzweiflungsakten. Sie überlegt sogar eine Affäre mit einem siebzigjährigen Geschäftsmann anzufangen:

“Warum habe ich ihn nicht mit hochgenommen? Er hätte der 4te sein können. Der Einzige, von dem vielleicht auch was zu erwarten gewesen wäre. Das eine oder andere Geschenk. Natürlich hätte auch er nach einer Weile angefangen, mich schlecht zu behandeln. Er wegen der Geschenke, die mich in seinen Augen zur Hure machen. Aber das ist egal, denn die anderen schenken mir nichts, denken trotzdem, mich verachten zu dürfen. Das macht mir nichts aus, ich weiß, woher es kommt. »Die Verachtung der weiblichen Körperlichkeit aus Gebärneid und Angst vor der mütterlichen Allmacht.«”

In dieser denkbar schlechten Ausgangssituation lernt Flora Darius kennen. Sie heiraten und beginnen ein gemeinsames Leben, das aber bald von Arbeitslosigkeit und Krisen und Eheprobleme überschattet wird. Flora zieht sich zurück, bald geht sie völlig auf Abstand. Darius verzweifelt. Vor allem ihre körperliche Distanziertheit setzt ihm zu. Es kommt zu an Vergewaltigung grenzenden Sex in ihrer Ehe. Sie zieht zu einer Kommune in den Wald in ein Blockhaus. Er sieht sie immer weniger. Irgendwann platzt ihm der Kragen und vergewaltigt sie beim Holzhacken. Danach sieht er sie nicht wieder. Sie erhängt sich in seiner Abwesenheit im Wald.

„[…] sie hat den ganzen stürmischen Herbst und den ganzen harten Winter in einer Hütte am Waldrand überstanden, so harte Winter wie in den letzten 2 Jahren habe ich noch nie erlebt, sie hat das alles durchgestanden, und im Frühling ist sie doch gestorben. Sie hat sich erhängt, an einem Baum, abseits des Wegs, anderthalb Tage, bis sie jemand fand, barfuß, ich habe sie nicht gesehen, aber ich weiß, ihre Füße waren ganz ohne Hornhaut, immer.“

Moras Roman „Das Ungeheuer“ inszeniert Darius‘ und Floras gemeinsames Leben aus je der Sicht der Figuren, zweigeteilt, auf jeder Seite. Flora schweigt über weite Strecke (die Seiten bleiben im unteren Teil unbedruckt). Darius erzählt und erzählt und lernt Menschen und Länder kennen. Er sucht eine zweite Flora. Er findet sie nicht. Seine Erzählweise verbleibt atemlos, schockiert, auf der Flucht. Ihre zeichnet sich nur Gedichte, Absätze, viel freien Raum aus, ein Schweigen, eine Ruhe, durchbrochen nur von treffsicheren Sätzen und kurzen Kommentaren.

Sowohl die formalästhetische Gestaltung, die die Gewalt inner- und außerhalb der Ehe thematisiert, das parallele Nebeneinander-her-Leben (die harte, unversöhnliche Zweiteilung der Buchseite), Darius als Rahmengeber (er behält das erste und letzte Wort), die Fugung und Staffelung und langsame Verstummung Floras, die verschiedene Rhythmik und Stilistik des Schreibens lassen Terézia Moras „Das Ungeheuer“ zu einem nachhallenden Lektüreerlebnis werden, das seinen Ort zwischen Olga Tokarczuks „Empusion”, Ingeborg Bachmanns „Malina“ und Elfriede Jelineks „Die Kinder der Toten“ einnimmt, dunkel, hart, eine ästhetisch-literarische Widerstandserklärung, die vor allem durch die Komposition und die durch sie erzeugte beharrliche und unversöhnliche Stille überzeugt.

5 Gedanken zu „Terézia Mora: „Das Ungeheuer““

  1. Als der Roman 2013 erschien, war sie Poetikdozentin in Frankfurt und hat über ihr Schreiben berichtet und im Literaturhaus gelesen. Nie hat sie aus Floras Aufzeichnungen gelesen und als Grund angegeben ” Es war nie still genug dafür, so etwas kann man nicht vorlesen.”
    Ich habe lange gebraucht für meinen eigenen Leserhythmus und zuerst beide zusammen gelesen und später jede Figur noch einmal einzeln – dann erschloss sich dieser Roman ganz.
    Kennst Du den Abschluß dieser Trilogie?

    https://www.deutschlandfunkkultur.de/terezia-mora-auf-dem-seil-grandioser-abschluss-der-kopp-100.html

    1. Es war mein erstes Mora-Buch, und ich bin sehr begeistert. Es ist eine interessante Form, beide unabhängig voneinander zu lesen. Floras Teil macht für mich Sinn, ihn nochmals zu lesen. Er ist dem Buch im Grunde vorgängig und nachgängig. Erschütternde Einsichten in den Pausen, im Rhythmus. Ja, einmal lesen reicht da wohl nicht. Das stimmt. Ich werde mit Sicherheit den Abschluss lesen. Das interessiert mich. Danke für den Tipp. Auch die Poetikvorlesungen werde ich bei Zeiten lesen. “Das Ungeheuer” ist ein sehr vielschichtiges Buch und wird es im Rückblick und in der Weiterlektüre bestimmt mehr und mehr. Viele Grüße!

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