J. M. Coetzee: „Der Pole“

Der Pole

Ruhig, besonnen, abgeklärt, doch voller Mystizismus

Ausführlicher und vielleicht begründeter auch auf kommunikativeslesen.com

John Maxwell Coetzees neuester Roman “Der Pole” umfasst lediglich knapp 150 Seiten. Vielleicht war dem Verlag der Begriff ‚Novelle‘ zu altbacken, vielleicht war der Text für eine Erzählung zu lang, für eine Novelle aber zu wenig auf ein spezielles, besonderes Ereignis geeicht. Dennoch: Die Komposition und Dichte, die Knappheit und Strenge Coetzees in „Der Pole“ deutet vielmehr auf eine Allegorie, ein Lehrstück als auf eine breitausfächernde Romanhandlung hin. Es wird die Affäre zwischen Beatriz, Hausfrau, 49 Jahre alt, mehr oder weniger glücklich verheiratet, und Witold, Pianist, 72 Jahre alt, seit über vierzig Jahren verwitwert, nacherzählt, und zwar aus Sicht Beatriz’, die im Grunde gar nichts für Witold zu empfinden meint:

Beim Durchstreifen der Welt auf der Suche nach seinem verlorenen Etwas, ist er zufällig auf sie, Beatriz, gestoßen und hat sie zu einem Fetisch gemacht. Sie bringen mir Frieden – was für ein Unsinn! Ich bin nicht die Antwort auf das Rätsel Ihres Lebens, Señor Witold – auf Ihr oder irgendjemandes Rätsel! Das hätte sie ihm antworten sollen. Ich bin, die ich bin!

Die resolute Beatriz will nicht Witolds Muse sein. Sie weigert sich, auf seine Avancen einzugehen, hält ihn für verrückt und realitätsfern. Witold lässt aber nicht locker. Er mag Beatriz. Sie ist sein Symbol des Friedens. Er sieht in ihr Dantes Beatrice, die dieser in seinem Jugendwerk “Vita Nuova – Das neue Leben” besingt und ein Leben lang geliebt hat. Die katalanische Beatrice der Neuzeit will von solch Schwärmereien nichts wissen und kanzelt ihn ab.

In meinem Leben gibt es keinen Platz für – wie soll ich es nennen? – eine Herzensaffäre. Sie erzählen mir, dass Sie ein Bild von mir mit sich herumtragen. Gut. Doch ich trage kein Bild von Ihnen mit mir herum. Ich trage kein Bild von irgendjemandem mit mir herum. Das ist nicht meine Art.“

Dennoch, nach weiterem Drängen Witolds, treffen sie sich auf Mallorca und verbringen gemeinsam eine Woche in aller Abgeschiedenheit. Beatrice weiß, wieviel sie geben will. Witold will mehr. Als Witold stirbt, hinterlässt er ihr 84 Gedichte. Dantes Vita Nuova weist 42 auf, sodass Witolds hinterlassene Gedichte 2×42, ein doppelter, reziproker Gesang des neuen Lebens darstellen. Der kurze Roman endet damit, dass Beatrice hinter den Sinn der Gedichte Witolds zu kommen versucht:

Nun, da das ganze pathetische Vorhaben vor ihr auf dem Schreibtisch liegt, sein Vorhaben, eine Liebe wiederauferstehen zu lassen und zu vervollkommnen, die nie fest gegründet war, überkommt sie Verzweiflung, doch auch Mitleid. Immer deutlicher steht ihr das Bild vor Augen: der alte Mann an seiner Schreibmaschine in seiner hässlichen Wohnung, wie er seinen Traum von Liebe ins Leben zu zwingen versucht und dafür eine Kunst benutzt, die er nicht wirklich beherrscht.

Coetzees neuer Roman enthält keine Schockelemente wie „Schande“. Der 83-jährige Schriftsteller sinniert kurz und knapp, in poetischer Vagheit über Liebe und Tod, Eros und Thanatos, über Vergänglichkeit und Ewigkeit. Auf jeder Seite glüht der Wunsch nach Leben. In jedem Wort glimmt der Lebensfunke. Beide, Beatriz und Witold, lieben das Leben. Sie lieben es so sehr, dass sie sich für einander öffnen, für die Intensität, die Möglichkeit, die Utopie, dass es irgendwie weitergeht, dass der Tod nicht das Ende ist, er nicht das letzte Wort behält. In „Der Pole“ hat Coetzee dafür gesorgt, dass die Liebe das letzte Wort hat. Sie geht weiter und über alle Zweifel hinaus.

J.M. Coetzee hat eine moderne Ballade auf die Liebe geschrieben. Ruhig, besonnen, abgeklärt, doch voller Mystizismus. Sein Buch reiht sich ein in die Versuche, einen langen Atem bis zum Ende zu literarisieren und zu öffnen: Angefangen von Helga Schuberts „Der heutige Tag“, Annie Ernaux‘ „Der junge Mann“, Irvin D. und Marilyn Yaloms “Unzertrennlich: Über den Tod und das Leben” zu Martin Walsers „Das Traumbuch“ und Michel Houellebecqs „Vernichten“. Coetzee trotzt diesem Thema jedoch eine ganz eigene Note ab.

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