Birgit Birnbacher: „Wovon wir leben“

Wovon wir leben

Unentschieden und doch eindringlich, eine Mutter-Tochter-Schmonzette.

Milva, eigentlich Maria Ilva Biolcati, war eine italienische Schlagersängerin, die über viele Jahrzehnte sehr erfolgreich und europaweit mit ihren Songs gewirkt hat. 1990 erschien von ihr das Album “Ein Kommen und Gehen” und auf diesem singt sie das Lied „Ich bin ganz ich“, das das zentrale Leitmotiv von Birgit Birnbachers neuestem Roman „Wovon wir leben“ angibt:

„Ich leb dir nach – du lebst mir vor
Wir leben auch getrennt d’accord
Wir passen in die gleichen Schuh
Was ich auch träume oder tu –
Ich bin ganz ich, ich bin ganz du“

Birnbacher und Milva sprechen von einer Mutter-Tochter-Beziehung, von der Liebe, den Verpflichtungen, den Träumen, die beide ineinandersetzen. Bei Birnbacher liest sich das aus der Sicht der Tochter wie folgt:

„Die Wellen schaukeln uns. Ich lehne den Kopf zurück, ich atme. Atme Mutter auf dem Boot ein, Mutter im Nachtzug, Mutter bei der Obsternte. Atme Erdbeeren, Pfirsische. Ihre neuen Beine, ihre perlenden Neuigkeiten, ihre nackten Füße in den zu großen Schlapfen. So, wie Vater gemeint hat, enden Frauenleben eben nicht. Weil Frauenleben so nicht enden, hat sie den roten Koffer genommen und sich in den Zug gesetzt.“

Birnbacher gewannt 2019 den Ingeborg-Bachmann Preis mit dem Text „Der Schrank“. Nach „Ich an meiner Seite“ von 2020 hat sie nun „Wovon wir leben“ weitere drei Jahre später herausgebracht. Es ist ein sentimentales Buch. Der Ton bleibt nüchtern, distanziert, zweifelnd. Die Ich-Erzählerin, Julia Noch, krempelt ihr Leben um, nachdem sie als Krankenschwester einer Patientin namens ‘Schwartz’ ein Medikament verabreicht hat, dass sie ihr gar nicht spritzen hätte dürfen. Sie hat aber auf den falschen Patientenbogen geschaut, nämlich auf den einer Patientin namens ‘Schwarz’, und durch diese Verwechslung kam es zu einem anaphylaktischen Schock, den die Patientin knapp und nur durch Glück überlebte:

„Ich erinnere mich nur an ihr geschwollenes Gesicht, das jetzt rötlich blau ist, und dass ich auf die Einstichstelle starre, die Aufschrift auf der Ampulle lese, gerade noch fähig, zu begreifen, dass z nicht tz ist und dass bei tz eine Medikamentenallergie vorliegt, nur eine einzige, nämlich die gegen den Wirkstoff, den ich gerade verabreicht habe. Dann drücke ich den einzigen Alarmknopf, den ich von meiner Position aus erreiche, den Herzalarm.“

Julia, zeitlebens Asthmatikerin, erleidet einen Schock und eine darauffolgende Atelektase. Sie bekommt kaum Luft. Sie akzeptiert die Kündigung und zieht zurück zu ihren Eltern aufs Land, wo sie feststellen muss, dass sich ihre Mutter mittlerweile aus dem Staub gemacht und ihren Ehemann und ihren, wegen einer nicht behandelten Meningitis, geistig schwer behinderten Bruder allein zurückgelassen hat. Der Bruder lebt im Sanatorium, der Vater aber allein im Haus und kann nicht für sich sorgen. Julia will aber nicht. Dieser Konflikt treibt das ganze Buch.

„Wie hat [Vater] sich das eigentlich vorgestellt, damals bei der Familiengründung? Er macht eine Skizze, einen Grundriss vom Haus, der Werkstatt und dem Garten, das reicht. Fürs Fleisch und Blut, fürs Gebären, fürs Großziehen, die Sauberkeit und den Dreck, für die Exkremente, die Tränen und den Schweiß waren immer die Frauen zuständig.“

In 31 sehr kurzen Kapiteln rekapituliert Birnbacher die langsame und beschwerliche Emanzipation von Julia, die stets auf der Schwelle zu Selbstzweifeln und Selbstaufgabe bleibt. In nüchternen, schnellen Passagen werden Liebesszenen, Schuldgefühle, Zukunftshoffnungen abgespult, die in der gedrängten und aufs äußersten verdichteten Form mehr Stimmung als Sinngebung erzeugen. Julia bleibt als Figur unnahbar, wie die Mutter, wie der Vater. Alles scheint von außen zu kommen. Alles scheint von außen vorbestimmt zu sein. Die Sprache gleitet fremd und als Zierrat auf den Ereignissen wie Schaum auf dem Sekt herum. Das innere Thema, die Selbstbeschränkung und Selbstbeobachtung, hätte von einer stärkeren, noch assoziativeren Sprache, von mehr Lyrismus, mehr Zerrissenheit, mehr indirekt narratives Beschreiben profitiert. Erzählposition und Erzählstil wollen nicht so recht zusammenpassen. Sie sind, um mit Milva zu sprechen, ein ganz anderer Schuh.

Vom Stil her viel zu sehr plotgetrieben, in einfacher Sprache bleibt die Beschreibung der diffizilen Problemen und Schuldgefühlen etwas auf der Strecke. Mehr Humor wie in Daniela Kriens „Der Brand“ hätte dem Roman gestanden, oder betont-gewollte Larmoyanz wie Kristine Bilkau in „Nebenan“ – wenn nicht in diese Richtung, dann hätte ein krasser, heftiger Stil à la Elfriede Jelineks „Gier“ oder „Lust“ oder Sibylle Bergs „GRM“ und „RCE“ oder „Und ich dachte, es sei Liebe“ dem psychosozialen Dynamit der Szenerie und seine Dringlichkeit mehr Intensität verliehen; oder eben weiterhin ländlich sentimental, aber mit Wucht wie Agustina Bessa-Luís in “Die Sibylle”.

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