Fang Fang: „Glänzende Aussichten“

Glänzende Aussicht by Fang Fang

Erbarmungslos dicht erzählt. Narratives Glanzlicht.

Fang Fangs Roman Glänzende Aussicht stammt aus dem Jahr 1986 und wurde 1987 das erste Mal publiziert. Es steht im Zusammenhang mit anderen Versuchen, die Ästhetik des Sozialistischen Realismus, bspw. Nikolai Ostrowskis Wie der Stahl gehärtet wurde , zu überwinden, also der literarischen Aufarbeitung der real-existierenden sozialistischen Gegenwart neue Impulse zu verleihen. Ein vergleichbarer Versuch fand durch Christa Wolf und ihr Romanexperiment Nachdenken über Christa T. statt, nur hier, bei Fang Fang rollt der narrative Faden durchweg flüssig, wohingegen dieser bei Wolf holpert und stolpert. Fang fällt mit der Tür ins Haus. Zu viel gibt es zu erzählen, als dass sie hinter dem Berg halten könnte:

Bruder Sieben ist inzwischen groß und dick geworden. Auf seinem Gesicht liegt gewöhnlich ein öliger roter Glanz. Sein Bauch wölbt sich auf angemessene Weise ein wenig vor. Ich kann es mir schwer vorstellen, dass dieser Fleischberg noch immer von seinem ursprünglichen Knochenklappergerüst getragen wird und hege den Verdacht, dass man bei der Operation, der er sich als Zwanzigjähriger unterziehen musste, nicht seinen Blinddarm entfernt, sondern seine Knochen ausgetauscht hat. Anders lässt sich die Tatsache, dass er danach immer fettleibiger wurde, kaum erklären.

Selbstredend erklärt die Erzählstimme in Glänzende Aussicht es dennoch „anders“, nämlich indem sie die Familiengeschichte von Bruder Sieben aufarbeitet. Sie gehört dem Bruder 8, der begraben, vor dem Haus der Eltern liegt, und die Ereignisse um sich herum aufzeichnet, also das Schalten und Walten in Sicherheit aus dem Jenseits betrachtet, und an die Unbekümmertheit von Ulrich Plenzdorfs Jenseits-Erzähler Edgar Wibeau aus dem DDR-Roman Die neuen Leiden des jungen W. erinnert. Nur geht es in Glänzende Aussichten nur selten um Liebe. Eher stehen sehr materielle Interesse der elfköpfigen Familie im Wege:

Bruder Zwei und Bruder Drei gingen Tag für Tag an die Bahnstrecke oder auf den Frachtplatz, um Kohlen zu klauen. Seit jeher wurden die Kohlen für die Familie auf diese Weise beschafft. Zu überlegen, ob dieses Vorgehen rechtmäßig war oder nicht, kam den Dieben gar nicht in den Sinn. Die Familie brauchte Kohlen und die Familie hatte kein Geld, Kohlen zu kaufen. Sie sich ohne Hemmungen von draußen anzueignen, war die natürlichste Sache der Welt. […] m Winter, wenn das Kohlenfeuer im Ofen prasselte, lobte Vater lauthals die Intelligenz und Fähigkeit von Bruder Drei: Er sei aus dem richtigen Holz geschnitzt.

Kompositorisch wird in Glänzende Aussicht das Leben der sieben verbleibenden Brüder und der beiden Schwestern Großer Duft und Kleiner Duft nacherzählt, bis hin zu Bruder Sieben, der eine Karriere als Parteifunktionär durchläuft und so, als anfänglicher Außenseiter und in der Familienhierarchie an unterster Stelle Stehender, über die Familie zu gebieten beginnt. Die vielen Brüder und Lebensgeschichten, die narrativ hoch-verdichtet rekapituliert werden, zeichnen ein realitätsgesättigtes Alltagsbild Chinas in den 1970er Jahren nach. Jeder Satz, jedes Wort beleuchtet Augenblicke, lebensentscheidende Aussagen, Hoffnung und Träume, die sich einfach so in Luft auflösen.

Wie viele Menschen sind in der Lage, derart friedlich und ruhig ein selbstgenügsames Leben zu führen? Lag es daran, dass die Geräusche einer chaotischen und lärmenden Welt nicht bis in ihr Inneres dringen konnten? War das die Ursache ihres harmonischen und stabilen Lebens? Bruder Vier war taubstumm.

Fang Fangs Glänzende Aussicht zeichnet vor allem eine narrative Dichtheit aus, die keine Zeit zum Auswalzen, Verwalzen, Zerfalzen von Betroffenheit hat. Sie geht direkt aufs Innerste des Lebens und lässt blitzlichtartig ganze Lebenswege in einem dialektischen Bild des Stillstands aufleuchten. Ihr Roman lässt sich als Erzählung im ursprünglichen Sinne verstehen, als ein Mitteilen von Leben, Erfahrung, als ein Miterleben von Welt, die durch das Erzählen und Weitergeben solcher Werke bereichert und erweitert wird.

Inhalt: 5/5 Sterne (Bewegende Einzelschicksale)
Form: 4/5 Sterne (strenge Stilistik, etwas restriktiv)
Erzählstimme: 5/5 Sterne (Ich-Erzähler aus dem Grab)
Komposition: 4/5 Sterne (zusammenfließende Lebenspfade)
Leseerlebnis: 5/5 Sterne (intensive Nachlese von Welt)

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