Nora Bossong: „Reichskanzlerplatz“

Reichskanzlerplatz by Nora Bossong
Reichskanzlerplatz von Nora Bossong.

Wohlaustariertes, gut komponiertes Rührstück mit historisch-phlegmatischem Anstrich. (Deutscher Buchpreis-Longlist)

Bossong schreibt in ihrem neuesten Roman Reichskanzlerplatz von einer unerfüllten Liebe zwischen Hans Kesselbach und Hellmut Quandt in den frühen Jahren der Weimarer Republik. Hans verliebt sich in seinen Mitschüler, dieser sich aber nicht in ihn. Dieser verliebt sich nämlich stattdessen in seine Schwiegermutter Magda, die nur sieben Jahre älter als sie beide ist und nicht gerade eine glückliche Ehe mit Hellmuts Unternehmervater Günther führt:

Als ich etwas später von der Toilette zurückkam und aus Versehen nicht links, sondern rechts in den Flur einbog, sah ich [Magda] hinter einer der verglasten Türen in einem Clubsessel, den nicht sie, sondern wie alles im Haus die Vorgängerin ihrer Vorgängerin ausgewählt hatte. Sie saß so allein, als habe sich die ganze Welt von ihr abgewandt, und ich hätte mich gern zu ihr gesetzt, meine Hand auf ihren Arm gelegt, aber sie war sieben Jahre älter als ich, und auch wenn sie in diesem Moment verletzlich wirkte, sie hätte meine große Schwester sein können, und sie war bereits verheiratet.

In diesem Gefühlswirrwarr von Reichskanzlerplatz geht bald alles drunter und drüber, und die Familie zerfällt, Hellmut stirbt und Magda und Hans gehen ihre eigenen Wege, die sich wieder und wieder kreuzen, mal länger, mal kürzer. Magda begeistert sich bald für die Nationalsozialisten und wird zur ersten und Vorzeigefrau des Staates, zur Gattin von Joseph Goebbels. Hans derweil lebt seine Lüste im Tiergarten aus und arbeitet an seiner Karriere als Jurist im Dritten Reich. Mit dem Aufstieg und Fall der Nationalsozialisten parallelisiert verarbeitet Hans seine unglückliche Jugendliebe:

Ich öffnete den Reisekoffer, die Kisten warteten noch am Grenzbahnhof Chiasso auf den Zoll, und hängte die vergilbte Fotografie von Waldemar inmitten meiner schattenhaften Vorfahren im Salon auf. Die ‚Buddenbrooks‘-Ausgabe mit der Widmung einer unleserlichen Tante stellte ich auf den Schreibtisch. Dann setzte ich mich und schrieb einige Zeilen an meine Mutter.

Die Buddenbrooks-Ausgabe erhielt Hans von Hellmut und Waldemar erinnert an sein Lieblingsstofftier, an die heile Kindheit, die er retrospektiv vielleicht gar nicht gehabt hat. Reichskanzlerplatz gestaltet eine sentimentale Ich-Erzählung einer unentschiedenen, unsicheren Figur, die niemals zu sich hinaufgestiegen ist und ein inneres Gleichgewicht gefunden hat. Hans entgleiten die Situationen, die Begebenheiten, die Lügen, Wahrheiten, eigene wie fremde, nur die Sehnsucht, die unmögliche, bleibt ihm: Er hätte gerne die Gelegenheit gehabt, mit Hellmut länger und intimer Zeit zu verbringen.

Hellmut stieg dicht vor mir auf den Sprungsockel, seine Jungenbeine waren über das Schuljahr muskulöser geworden, und Flaum lag auf seinen Waden. Dann wieder wartete ich am Ufer und sah ihm zu, wie er in den Knien federnd an der Kante stand, die Arme erst zur Seite ausstreckte und dann bereits im Absprung über seinen Kopf zusammenführte. Ich blinzelte gegen die Sonne und verlor mich im Glitzern des Wassers, das beim Eintauchen seines Körpers aufspritzte.

Reichskanzlerplatz schließt an Günter Grass‘ Katz und Maus an, besitzt dieselbe Sentimentalität einer verlorenen Nähe, kriegszerwüstet, aber nicht die narrative Geschlossenheit und stilistische Sicherheit. Es nimmt auch Momente von Erich Kästners Fabian auf, vermag aber nicht wie dieses eine innere Dramatik und Aussichtslosigkeit zu gestalten, die die Berliner 1920er Jahre vor Augen führen, brilliert dafür aber, anders als Kästners moralisches Lehrstück, mit ausgewogener Komposition ohne pädagogische Hintergedanken. Leider bleibt vieles Historische nur angedeutet, wie die Personalie des Widerstandskämpfers Hans Bernd Gisevius oder auch die von Magda Goebbels selbst, so dass zu dem kargen und unentschiedenen Erzählstil und der einfallslosen Sprache zudem noch wenig inhaltlicher Schwung über das erste Drittel hinaus erreicht wird.

Inhalt: 3/5 Sterne (sentimentale Liebesgeschichte)
Form: 2/5 Sterne (sichere, aber langweilige Diktion)
Erzählstimme: 1/5 Sterne (unglaubwürdiges Stammeln)
Komposition: 5/5 Sterne (wohlaustariert, zirkulierend)
Leseerlebnis: 2/5 Sterne (trauriges, nostalgisches Darben)
–> 2,6 Sterne.

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