Saša Stanišić: „Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne“

Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem G... by Saša Stanišić

Literarisches Entspannungsprogramm für den Strandurlaub mit ein paar gewollt-erscheinenden Denkanstößen

Saša Stanišić‘ neuestes Buch Möchte die Witwe angesprochen werden … stellt eine Art beliebig erweitbarer Roman dar. Es beginnt mit einer futuristischen, fast Stanislaw Lem’schen Aussicht auf eine Zeitreisemaschinen-Erfindung, die parallele Lebenswege, je nach Entscheidungsstand, vorhersehbar werden lässt, und bei Gefallen, gegen einen gewissen Aufpreis, festgelegt werden kann. Von dieser Erfindung an werden nun verschiedene Lebenswege präsentiert, bspw.:

● Fatih Ozan (Zeitreisenerfinder)
● Saša Stanišić (Fußballtrainer)
● Gisela Brunner (Bärendompteurin)
● Georg Horvath (Justiziar)

Was nun passiert, lässt sich als feucht-fröhliche Fahrt durch die Abgründe, Phantasmagorien, durch die Ängste, die Traumata, die Hoffnungen, also als Reise durch den bundesrepublikanisch-libidinösen Stimmungsstrudel beschreiben:

Und das alles – diese ganze Person [aufrecht gehende Seniorin] vor diesem Edeka, ihre Ruhe und ihr Stock vom Elfenbein, ihre Hochsteckfrisur, und dass sie uns zulächelte, obwohl sie noch gar nicht so nah war –, das passte nicht zu den grauen Pflanzen in den grauen Kübeln in dieser arschtristen Supermarktpassage, passte nicht zu Michel, zu mir, zu den Polizisten, passte nicht zur Anspannung, die von den beiden ausging, und zum Druck, der bei Michel und mir ankam, passte nicht zu der braunen Bananenschale im letzten Einkaufswagentausendfüßlers (wir waren das nicht, ich schwöre!).

In Jugendsprech flott daher fließend, mundartlich-eingewebt, authentisch gefärbt, fröhlich und frei nach Schnauze improvisiert stellt sich in Möchte die Witwe angesprochen werden … ein gewisses Diskurslandschaftsbild ein, drollig, freundlich, anspruchslos und nett, und auf seine Weise selbstironisch und flanierend deeskalierend. Stanišić legt eine Sommerstrand-Nachmittagscocktaillektüre vor, die insbesondere da glänzt, wo einer Figur eine gewisse Verweildauer eingeräumt wird:

»Ohne Plan ist sowieso am geilsten«, sprach Nico die große Wahrheit aus und lehnte sich zurück, weil man das so tat, nachdem man eine große Wahrheit ausgesprochen hatte in den Weinbergen. Faith lehnte sich auch zurück und Piero auch, ich lehnte mich auch zurück, und dann lehnte sich, ohne Scheiß, das komplette Neckartal zurück, kurz knirschte der Horizont.

Stimmungstechnisch eine fröhliche Variante von Necati Öziris Vatermal und eine kollagierte Form von Dinçer Güçyeters Unser Deutschlandmärchen , gemixt mit Szenen und Episoden aus Tijan Silas Radio Sarajevo , wobei in Form, Klang, Mischbrettklaviatur Barbi Marković‘ Minihorror Pate gestanden haben mochte: Comicstrip-Einlagen, lose Komposition aus Gegenwartsdiskursen, Einsprengsel, Miniaturverweise und Zitationsdschungel.

Prosa als Medium dient in Möchte die Witwe angesprochen werden … hier nur als Projektionsfolie von divergenten Diskursansprüchen, die unversöhnt nebeneinander stellen bleiben. All dies aber wird zusammengehalten von einer fröhlichen, intervenierenden Erzählstimme, die das alles ernst, aber nicht allzu ernst nimmt und zum nächsten Aperol Spritz ruft. Wie Fahrstuhlmusik also ein guter Lückenfüller im vielleicht doch allzu dicht gewebten Lektüreprogramm.

Inhalt: 2/5 Sterne (Alltagsnebenschauplätze)
Form: 2/5 Sterne (einfach-unverkrampft)
Komposition: 3/5 Sterne (serielle Reihung)
Leseerlebnis: 2/5 Sterne (unanstrengend)

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