Abdulrazak Gurnah: “Das versteinerte Herz”

Das versteinerte Herz by Abdulrazak Gurnah

Schockierend zäh, diffus, orientierungslos erzähltes Familiendrama ohne Twist und Formwillen.

Mit Das versteinerte Herz liegt nun auch der neunte Roman des Nobelpreisträgers für Literatur aus dem Jahr 2021, Abdulrazak Gurnah, in deutscher Sprache vor. Im Original 2017 erschienen, behandelt der Roman die Kindheit und Jugend Salim Masud Yahyas, dessen ersten Schritte in das Erwachsenenleben auf Sansibar, später in London und dann Brighton und lässt sich als Coming-of-Age-Roman betrachten, mit starkem Fokus auf die elterlichen, familiären Umstände des Aufwachsens und sexuellen Erwachens:

Während sie mir das Hemd aus dem Hosenbund zog und ihre Hand in meine Jeans schob, sagte eine [von den jungen Frauen auf den Partys], sie würde mit mir schlafen, wenn ich nicht schwarz wäre, aber da ich es nun mal sei, würde leider nichts daraus. Ich fragte sie, ob sie mit einem Chinesen schlafen würde. Sie überlegte kurz und bejahte, dann knutschte sie mich weiter, und ich leistete keine Gegenwehr, obwohl mein Ehrgefühl natürlich verlangt hätte, dass ich sie wegstoße und hoch erhobenen Kopfes gehe.

Salim sitzt zwischen allen Stühlen. Einerseits besitzt er die Möglichkeit, in England zu studieren, andererseits fühlt er sich schuldig, entwurzelt, von allen guten Geistern verlassen. Sein Vater vagabundiert in Kiponda herum, seine Mutter lebt als Zweitfrau eines Bürokraten, und sein Onkel, der Bruder seiner Mutter, strebt eine Karriere als Botschafter an. Das Familiendrama, die Scham, halten den Ich-Erzähler passiv. Er treibt vor sich hin, hat an nichts außer Sex und Literatur Freude. Nach und nach lüftet sich das Familiengeheimnis, die Geschehnisse, die zur Trennung der Eltern geführt haben, zur Distanz und Entfremdung, an der Salim leidet:

Inzwischen fühle ich mich hier fremder denn je. Ich hasse es, aber ich bleibe trotzdem. Ich komme mir wie ein Verräter vor, weiß aber nicht genau, wen ich verraten habe […] Bei jedem unserer Abschiede hatte ich geglaubt, es sei das letzte Mal, aber an diesem milden Samstagmorgen saß ich schon wieder auf Rhondas Terrasse und wartete darauf, dass sie endlich aufwachte. Ich musste lächeln, und während ich mich fragte, wer von uns beiden der bedürftigere Mensch war, wurde mein Lächeln plötzlich traurig und selbstmitleidig.

Gurnah inszeniert einen kargen, nüchternen, hakeligen Ich-Erzähler, der Konjunktionen, Satzanschlüsse, Tempi und Modi verwechselt, unklar in der Zeit schwebt, mal wissend zurückblickt, mal stumpf spekuliert, obwohl er aus der Erzählposition die Geschehnisse bereits kennt. Mühsam wirkt der Spannungsaufbau, das Zurückhalten des ohnehin erwartbaren Geheimnis, das ärgerliche Zurückhalten bereits erhaltener Informationen, die immer wieder alle paar Seiten angedeutet, aber erst ganz am Ende in Zusammenhang gebracht werden.

An seinen rätselhaften Ratschlag konnte ich mich nicht mehr genau erinnern. Der Segen als Anfang der Liebe – oder war es andersherum? Es spielte keine Rolle mehr, das waren nur Worte, und auf lange Sicht machten Worte niemanden unglücklich.

Keine der Figuren überzeugt, weder der Onkel, noch der Vater, noch die Mutter, am meisten noch die Großmutter, bei der die Mutter aufwächst. Der Clou der Komposition liegt an der Parallellesung von William Shakespeares Maß für Maß , nur hier statt als Komödie als Farce, nämlich ohne Isabellas Happy End für Saida, ohne Angelos Herabsetzung für Amir. Die Erzählperspektive leidet an Starrheit. Die erfundenen Briefe wirken langweilig und unkommunikativ. Masud, der Vater, als Märtyrer wirkt wie der Magistrat aus Warten auf die Barbaren , nur ohne Sendungsbewusstsein; und der Onkel Amir wie Peter Munk aus Wilhelm Hauffs Das kalte Herz , nur ohne Lehrgeld bezahlen zu müssen. Die Komposition, das Pastiche aus bekannten Motiven, bleibt rationalistisch kalt zusammengestellt und ohne innere Perspektivierung aneinandergereiht.

Abdulrazak Gurnah zeigt hier der ästhetischen Form unversöhnlich die kalte Schulter und erklärt der poetischen Dynamik den Krieg: Sprache selbst erscheint als Feind und wird zerhackt. Als Dokument überzeugend, als Literatur nicht.

Inhalt: 2/5 Sterne (wurzelloses, trauriges Dahintreiben)
Form: 1/5 Sterne (radebrechend-zerstörerisch)
Komposition: 2/5 Sterne (reines, abstraktes K

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